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»Trotzdem, es hat lange gedauert, bis sie sich gezeigt haben«, sage ich.

»Das war halt nicht so einfach. Sie mussten erst eine Rebellenbasis im Kapitol aufbauen und den Untergrund in den Distrikten organisieren«, sagt Gale. »Und dann brauchten sie noch jemanden, der den Stein ins Rollen bringt. Sie brauchten dich.«

»Peeta brauchten sie auch, aber das scheinen sie vergessen zu haben«,sage ich.

Gales Miene verdüstert sich. »Peeta hat heute Abend möglicherweise eine Menge Schaden angerichtet. Die meisten Rebellen werden das, was er gesagt hat, natürlich umgehend ablehnen. Doch es gibt Distrikte, in denen der Widerstand wackelt. Das mit dem Waffenstillstand ist eindeutig die Idee von Präsident Snow. Aber wenn sie aus Peetas Mund kommt, klingt sie unheimlich vernünftig.«

Ich habe Angst vor Gales Antwort, aber ich frage trotzdem: »Warum, glaubst du, hat er das gesagt?«

»Vielleicht haben sie ihn gefoltert. Oder überredet. Ich persönlich glaube, er ist irgendeinen Handel eingegangen, um dich zu beschützen: Er bringt die Idee eines Waffenstillstands aufs Tapet, wenn Snow im Gegenzug erlaubt, dass Peeta dich als verwirrtes schwangeres Mädchen darstellt, das völlig ahnungslos war, als es von den Rebellen gefangen genommen wurde. Damit bestünde immer noch die Aussicht auf Milde für dich, falls die Distrikte verlieren. Und falls du mitspielst.« Ich muss völlig perplex aussehen, denn den nächsten Satz spricht Gale sehr langsam aus. »Katniss … er versucht immer noch, dich zu retten.«

Mich zu retten? Und dann begreife ich. Die Spiele dauern noch immer an. Wir sind zwar nicht mehr in der Arena, aber da Peeta und ich nicht getötet wurden, hat sein letztes Ziel, also mein Leben zu retten, weiterhin Bestand. Seine Idee ist, dass ich mich versteckt halte, eingesperrt bleibe, solange der Krieg tobt. Dann hätte eigentlich keine der Seiten einen Grund, mich zu töten. Und Peeta? Wenn die Rebellen gewinnen, sieht es übel für ihn aus. Wenn das Kapitol gewinnt, wer weiß … Falls ich schön mitspiele, dürfen wir vielleicht beide am Leben bleiben - und zusehen, wie die Spiele weitergehen …

Bilder tauchen auf: der Speer in der Arena, der Rues Körper durchbohrt; Gale, der bewusstlos am Pranger hängt; die mit Leichen übersäte Wüstenlandschaft meiner Heimat. Und wozu das alles? Wozu? Je erregter ich werde, desto mehr Erinnerungen kommen hoch. Der erste flüchtige Hinweis auf den Aufstand in Distrikt 8. Die Sieger Hand in Hand am Abend vor Beginn der Spiele zum Jubel-Jubiläum. Und das ganz und gar nicht zufällige Abschießen meines Pfeils ins Kraftfeld um die Arena. Und wie sehr ich mir wünschte, ihn tief ins Herz meines Feindes zu versenken.

Ich springe auf, wobei ich eine Schachtel voll mit Stiften umkippe und sie auf dem Boden verstreue.

»Was ist los?«, fragt Gale.

»Es darf keinen Waffenstillstand geben.« Ich bücke mich, taste nach den dunkelgrauen Grafitstäben und versuche sie zurück in die Schachtel zu stopfen. »Wir dürfen nicht nachgeben.«

»Ich weiß.« Gale klaubt eine Handvoll Stifte zusammen und klopft sie auf dem Boden zurecht.

»Was immer Peeta bewogen hat, solche Sachen zu sagen, er irrt sich«, sage ich. Die blöden Stifte wollen nicht in die Schachtel und vor Ungeduld breche ich mehrere ab.

»Ich weiß.« Gale nimmt mir die Schachtel aus der Hand und füllt sie mit geschickten Bewegungen. »Gib her. Du machst sie ja alle kaputt.«

»Peeta weiß nicht, was sie mit Distrikt 12 gemacht haben. Wenn er gesehen hätte, wie es dort unten aussieht …«, sage ich.

»Katniss, ich will nicht mit dir streiten. Wenn ich einen Knopf drücken und jeden, der mit dem Kapitol zusammenarbeitet, töten könnte, ich würd’s tun. Ohne zu zögern.« Er legt den letzten Stift in die Schachtel und macht sie zu. »Die Frage ist, was wirst du tun?«

Jetzt wird mir klar, dass es auf die Frage, die so lange an mir genagt hat, die ganze Zeit nur eine mögliche Antwort gab. Trotzdem bedurfte es Peetas Auftritt, damit ich es einsehe.

Was soll ich tun ?

Ich hole tief Luft. Ich hebe sacht die Arme - wie ein Nachhall der schwarz-weißen Schwingen, die Cinna mir verliehen hat - und lasse sie wieder sinken.

»Ich werde der Spotttölpel sein.«

3

Butterblume liegt in Prims Armbeuge - es war immer seine Aufgabe, Prim vor der Nacht zu beschützen. In seinen Augen spiegelt sich das matte Glimmen des Sicherheitslichts über der Tür. Prim hat sich an meine Mutter gekuschelt, und wie sie so schlafend daliegen, sehen sie aus wie vor einem Jahr, am Morgen der Ernte, die mich in meine ersten Hungerspiele katapultierte. Ich habe ein Bett für mich allein, weil ich noch nicht richtig gesund bin und weil sowieso niemand mit mir in einem Bett schlafen kann, bei den Albträumen und dem dauernden Hin-und-her-Gewälze.

Nachdem ich mich stundenlang von einer Seite auf die andere geworfen habe, akzeptiere ich schließlich, dass es eine schlaflose Nacht wird. Unter Butterblumes wachsamem Blick schleiche ich auf Zehenspitzen über den kalten Fliesenboden zur Kommode.

Die mittlere Schublade enthält die mir zugeteilten Kleidungsstücke. Jeder hier trägt die gleiche graue Hose und das gleiche graue Hemd, das in den Hosenbund gesteckt wird. Unter der Kleidung verwahre ich die wenigen Dinge, die ich bei mir trug, als ich aus der Arena geholt wurde. Die Brosche mit dem Spotttölpel. Das Andenken von Peeta, ein goldenes Medaillon mit Fotos: meine Mutter, Prim und Gale. Ein silberner Fallschirm, in den ein Hahn zum Zapfen von Baumsaft eingewickelt ist, sowie die Perle, die Peeta mir geschenkt hat, kurz bevor ich das Kraftfeld in die Luft gejagt habe. Die Tube mit der Salbe hat Distrikt 13 ebenso konfisziert wie meinen Bogen und die Pfeile, denn nur die Wachen haben die Erlaubnis, Waffen zu tragen. Sie liegen jetzt im Arsenal.

Ich betaste den Fallschirm und fasse hinein, schließe die Finger um die Perle. Dann setze ich mich im Schneidersitz aufs Bett und fahre mit der zart irisierenden Perle über meine Lippen. Aus irgendeinem Grund tröstet mich das. Ein kühler Kuss von dem, der sie mir geschenkt hat.

»Katniss?«, flüstert Prim. Sie ist aufgewacht und späht durch die Dunkelheit zu mir herüber. »Was ist los?«

»Nichts. Hab nur schlecht geträumt. Schlaf weiter.« Ein Automatismus. Prim und meine Mutter heraushalten, um sie zu schützen.

Vorsichtig, damit sie meine Mutter nicht weckt, steigt Prim aus dem Bett, schnappt sich Butterblume und setzt sich neben mich. Sie berührt meine Hand, die sich um die Perle geschlossen hat. »Du frierst ja.« Sie zieht die Wolldecke vom Fußende des Bettes herauf und wickelt uns alle drei hinein. Jetzt bin ich in ihre Wärme und in Butterblumes pelzige Hitze eingehüllt. »Du kannst es mir ruhig sagen, weißt du. Ich kann ein Geheimnis für mich behalten. Sogar vor Mutter.«

Jetzt ist es endgültig verschwunden. Das kleine Mädchen mit der herausgerutschten Bluse, deren Zipfel aussieht wie ein Entenschwanz; dem man bei den Tellern helfen musste, weil es noch nicht so hoch kam, und das so lange bettelte, bis ich mit ihm die verzierten Kuchen im Schaufenster der Bäckerei anschauen ging. Zeit und Schicksalsschläge haben Prim notgedrungen älter werden lassen, zu schnell für meinen Geschmack, und jetzt ist sie eine junge Frau, die blutende Wunden zusammennäht und weiß, dass man unserer Mutter nicht so viel zumuten kann.