Ich weigere mich anzuerkennen, dass er die Wahrheit spricht. Manches kann nicht mal ich ertragen. Ich spreche die ersten Worte seit dem Tod meiner Schwester aus. »Ich glaube Ihnen nicht.«
In gespielter Enttäuschung schüttelt Snow den Kopf. »Ach, mein liebes Fräulein Everdeen. Ich dachte, wir hätten ausgemacht, einander nicht zu belügen.«
Draußen im Flur steht Paylor noch an der gleichen Stelle wie vorher. »Und? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragt sie.
Als Antwort halte ich die weiße Knospe hoch und stolpere dann an ihr vorbei. Irgendwie muss ich es zurück in mein Zimmer geschafft haben, weil ich kurz darauf im Bad ein Glas mit Wasser fülle und die Rose hineinstelle. Knie mich auf dem eisigen Boden hin und schaue die Blume mit zusammengekniffenen Augen an, denn in dem kahlen fluoreszierenden Licht ist ihr Weiß kaum zu erkennen. Ich fahre mit dem Finger unter mein Armband und drehe daran wie an einem Druckverband, bis das Gelenk wehtut. Vielleicht hält der Schmerz mich in der Wirklichkeit, so wie die Handschellen Peeta. Ich muss durchhalten. Ich muss die Wahrheit herausfinden.
Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist es so, wie ich bisher gedacht habe: Das Kapitol hat das Hovercraft geschickt, die Fallschirme abgeworfen und das Leben seiner Kinder geopfert, weil es wusste, dass die nahenden Rebellen ihnen zu Hilfe eilen würden. Dafür gäbe es Beweise: das Wappen des Kapitols auf dem Hovercraft, der unterbliebene Versuch, den Feind abzuschießen, sowie die lange Tradition, im Kampf gegen die Distrikte Kinder als Geiseln einzusetzen. Oder aber Snows Darstellung ist korrekt. Ein mit Rebellen bemanntes Hovercraft des Kapitols hat die Kinder bombardiert, um den Krieg möglichst rasch zu beenden. Aber warum hat das Kapitol dann nicht auf den Feind geschossen? Waren sie zu überrascht? Hatten sie keine Luftabwehr mehr? Für Distrikt 13 sind Kinder besonders wertvoll, zumindest hatte es immer den Anschein. Na ja, mich vielleicht ausgenommen. Als ich meine Schuldigkeit getan hatte, war ich auf einmal entbehrlich. Allerdings dürfte es lange her sein, dass man mich in diesem Krieg als Kind betrachtet hat. Aber warum hätten sie das tun sollen, wo sie doch davon ausgehen mussten, dass ihre eigenen Sanitäter zu Hilfe eilen und von der zweiten Explosion getötet werden würden? Es ist ausgeschlossen, dass sie das getan haben. Snow lügt. Er versucht mich doch nur wieder zu manipulieren. Er hofft, mich zum Feind der Rebellen zu machen und sie womöglich zu vernichten. Ja. Natürlich.
Warum nagt es dann so an mir? Zuerst diese zeitversetzt explodierenden Bomben. Möglich, dass auch das Kapitol über solche Waffen verfügt hat, von den Rebellen weiß ich es ganz sicher. Gales und Beetees Erfindung. Hinzu kommt die Tatsache, dass Snow, obwohl er so ein Überlebenskünstler ist, keinen Fluchtversuch unternommen hat. Kaum anzunehmen, dass er nicht irgendwo einen Unterschlupf gehabt haben soll, irgendeinen Bunker voller Vorräte, wo er den Rest seines hinterhältigen Lebens unbehelligt hätte verbringen können. Und schließlich seine Einschätzung von Coin. Es stimmt, was er gesagt hat. Sie hat Kapitol und Distrikte in den Kampf geschickt, und als die sich verausgabt hatten, ist sie einfach hereinspaziert und hat die Macht übernommen. Aber selbst wenn sie das von Anfang an so geplant hätte, muss sie noch lange nicht die Fallschirme abgeworfen haben. Sie hatte den Sieg doch schon in der Hand. Alles hatte sie in der Hand.
Außer mir.
Mir fällt ein, was Boggs erwidert hat, als ich sagte, ich hätte mir noch keine großen Gedanken über Snows Nachfolger gemacht. » Wenn du nicht spontan Coin sagen kannst, bist du eine Bedrohung. Du bist das Gesicht der Rebellion. Möglicherweise hast du mehr Einfluss als jeder andere. Nach außen hin hast du Coin bisher allenfalls toleriert, mehr nicht.«
Plötzlich denke ich an Prim, die noch nicht vierzehn war, noch nicht alt genug, um Soldat zu sein, die aber trotzdem an vorderster Front gekämpft hat. Wie konnte das passieren? Dass meine Schwester selbst dorthin wollte, daran habe ich keinen Zweifel. Und es steht auch fest, dass sie fähiger war als viele Ältere. Trotzdem hätte es der Genehmigung einer sehr hochgestellten Persönlichkeit bedurft, damit eine Dreizehnjährige in den Kampf ziehen kann. Hat Coin diese Genehmigung erteilt, in der Hoffnung, dass Prims Verlust mich vollends in den Wahnsinn treiben oder mich wenigstens zu ihrer Verbündeten machen würde? Ich hätte es nicht mal persönlich miterleben müssen. Auf dem Großen Platz standen zahllose Kameras. Die den Augenblick für immer eingefangen hätten.
Nein, ich werde ja total verrückt, ich leide schon unter Verfolgungswahn! Es gäbe doch viel zu viele Mitwisser. Irgendetwas würde durchsickern. Oder vielleicht nicht? Wer müsste denn eingeweiht sein außer Coin, Plutarch und einer kleinen Schar loyaler oder gefügiger Gefolgsleute?
Ich brauche unbedingt jemanden, mit dem ich darüber reden kann, nur dass alle, denen ich vertraue, tot sind. Cinna. Boggs. Finnick. Prim. Peeta ist noch da, aber er könnte auch nicht mehr tun als spekulieren, und außerdem weiß ich nicht, in welchem Geisteszustand er sich befindet. Bliebe nur noch Gale, und der ist weit weg. Aber selbst wenn er hier bei mir wäre - könnte ich ihm trauen? Was könnte ich sagen, wie könnte ich es formulieren, ohne gleichzeitig zu sagen, dass es seine Bombe war, die Prim getötet hat? Weil diese Vorstellung so absolut unmöglich ist, muss Snow einfach die Unwahrheit sagen.
Letztendlich bleibt nur ein Mensch, an den ich mich wenden kann, der vielleicht weiß, was geschehen ist, und der noch auf meiner Seite steht. Es ist ein Risiko, das Thema überhaupt anzuschneiden. Ich bin zwar der Meinung, dass Haymitch in der Arena mit meinem Leben gespielt hat, aber dass er mich an Coin verrät, glaube ich nicht. Egal, welche Probleme wir miteinander haben, unsere Konflikte klären wir untereinander.
Ich rappele mich hoch, renne aus dem Badezimmer und über den Flur zu seinem Zimmer. Niemand antwortet auf mein Klopfen, deshalb mache ich selbst die Tür auf. Igitt! Unglaublich, wie schnell er einen Raum verwüsten kann. Halb leer gegessene Teller, zertrümmerte Schnapsflaschen und demoliertes Mobiliar zeugen von einem Wutanfall in betrunkenem Zustand. Ungekämmt und ungewaschen liegt Haymitch besinnungslos in einem Knäuel aus Laken auf dem Bett.
»Haymitch«, sage ich und rüttele an seinem Bein. Natürlich reicht das nicht. Ich versuche es trotzdem noch ein paarmal, ehe ich ihm den Wassereimer übers Gesicht kippe. Nach Luft schnappend, kommt er zu sich und sticht blindlings mit seinem Messer nach mir. Offenbar bedeutet Snows Ende nicht das Ende seiner Schrecken.
»Ach. Du«, sagt er. An seiner Stimme erkenne ich, dass er immer noch betrunken ist.
»Haymitch«, hebe ich an.
»Sieh an. Der Spotttölpel hat seine Stimme wiedergefunden.«
Er lacht. »Na, da wird Plutarch sich aber freuen.« Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Warum bin ich eigentlich so nass?« Unauffällig lasse ich den Eimer hinter mich in einen Stapel Schmutzwäsche fallen.
»Ich brauche deine Hilfe«, sage ich.
Haymitch rülpst und füllt die Luft mit Schnapsausdünstungen. »Was ist denn los, Süße? Wieder Stress mit den Jungs?« Ich weiß nicht, warum, aber damit verletzt Haymitch mich so wie nur selten. Es muss mir anzusehen sein, denn selbst in seinem betrunkenen Zustand versucht er zurückzurudern. »Okay, war nicht witzig.« Ich bin schon an der Tür. »Nicht witzig! Komm zurück!« Ich höre, wie er auf dem Boden aufschlägt, und daran merke ich, dass er mir wohl nachlaufen wollte. Ein aussichtsloses Unterfangen.