Ich renne kreuz und quer durch den Palast und verschwinde in einem Schrank. Reiße die Seidenkleider darin vom Haken und lasse mich in den entstandenen Haufen sinken. Im Futter meiner Tasche finde ich eine einsame Morfix-Tablette und schlucke sie trocken hinunter, um die aufkeimende Hysterie abzuwenden. Doch es reicht nicht, um alles wiedergutzumachen. Aus der Ferne höre ich Haymitch rufen, aber in seinem Zustand wird er mich nicht finden. Besonders nicht in diesem neuen Versteck. Eingehüllt in Seide, fühle ich mich wie eine Raupe im Kokon, die auf die Metamorphose wartet. Etwas, das ich mir immer als friedlichen Zustand vorgestellt hatte. Anfangs ist es das auch. Doch mit fortschreitender Nacht fühle ich mich immer mehr in der Falle, erstickt von den seidigen Tüchern, unfähig herauszukommen, bevor ich mich in etwas Schönes verwandelt habe. Ich winde mich, versuche meinen zerstörten Körper abzustoßen und hinter das Geheimnis zu kommen, wie mir makellose Flügel wachsen könnten. Aller Anstrengung zum Trotz bleibe ich ein hässliches, von Brandbomben entstelltes Wesen.
Die Begegnung mit Snow öffnet die Türen zu meinem alten Repertoire an Albträumen. Als wäre ich erneut von den Jägerwespen gestochen worden. Schreckliche Bilder folgen in Wellen aufeinander, dazwischen eine kurze Atempause, die ich mit Wachsein verwechsele, nur um gleich darauf von einer neuen Welle zurückgestoßen zu werden. Als die Wachen mich endlich finden, sitze ich auf dem Boden des Schranks in einem wirren Knäuel Seide und schreie mir die Seele aus dem Leib. Erst wehre ich mich, bis sie mich überzeugen, dass sie mir nur helfen wollen, die würgenden Kleider zu entfernen, und mich zurück in mein Zimmer geleiten. Unterwegs kommen wir an einem Fenster vorbei und ich sehe einen grauen, verschneiten Morgen über dem Kapitol dämmern.
Ein reichlich verkaterter Haymitch wartet mit einer Handvoll Pillen und einem Tablett Essen, auf das weder sein noch mein Magen Appetit hat. Er unternimmt einen halbherzigen Versuch, mich wieder zum Sprechen zu bringen, doch als er sieht, dass es zwecklos ist, schickt er mich in die Badewanne, die jemand hat einlaufen lassen. Die Wanne ist tief und hat drei Stufen. Ich lasse mich ins warme Wasser gleiten, und so, bis zum Hals in Schaum, sitze ich da und hoffe, dass die Medikamente bald wirken. Ich starre auf die Rose, die über Nacht aufgegangen ist und die dampfende Luft mit ihrem kräftigen Duft schwängert. Ich stehe auf und will ein Handtuch nehmen, um ihn zu ersticken, als es zaghaft klopft. Die Badezimmertür wird geöffnet und drei vertraute Gesichter kommen zum Vorschein. Sie versuchen, mich anzulächeln, doch selbst Venia kann nicht verbergen, wie geschockt sie über meinen verwüsteten Mutationskörper ist. »Überraschung!«, quiekt Octavia, dann bricht sie in Tränen aus. Ich frage mich, weshalb sie hier auftauchen, bis mir klar wird, dass heute der Tag sein muss. Der Tag der Hinrichtung. Sie sollen mich für die Kameras herrichten. Mich auf Beauty Zero bringen. Kein Wunder, dass Octavia heult. Die Aufgabe ist unmöglich.
Sie trauen sich kaum, den Flickenteppich meiner Haut zu berühren, aus Angst, sie könnten mir wehtun, deshalb dusche und trockne ich mich selbst ab. Ich beruhige sie, dass ich kaum noch Schmerzen habe, aber Flavius schreckt trotzdem zurück, als er mir einen Umhang umlegt. Im Schlafzimmer wartet noch eine Überraschung auf mich. Aufrecht sitzt sie auf einem Stuhl, von der Goldmetallic-Perücke bis zu den Lacklederpumps auf Hochglanz poliert, ein Klemmbrett in der Hand. Bemerkenswert unverändert, bis auf den leeren Blick in ihren Augen.
»Effie«, sage ich.
»Hallo, Katniss.« Sie steht auf und küsst mich auf die Wange, als wäre seit unserer letzten Begegnung am Abend vor dem Jubel-Jubiläum nichts vorgefallen. »Tja, sieht aus, als hätten wir wieder einen großen, großen, großen Tag vor uns. Fangt ihr doch schon mit der Vorbereitung an, ich gehe auf einen Sprung rüber und kontrolliere die Arrangements, ja?«
»Okay«, sage ich zu ihrem Rücken.
»Es heißt, Plutarch und Haymitch hätten mit allen Mitteln dafür gekämpft, dass sie am Leben bleibt«, flüstert mir Venia zu. »Nach deiner Flucht war sie als Mitwisserin eingesperrt worden, das hat sie gerettet.«
Effie Trinket eine Rebellin. Das ist ziemlich weit hergeholt. Aber ich möchte nicht, dass Coin sie umbringt, deshalb nehme ich mir vor, sie als solche darzustellen, falls danach gefragt wird. »So gesehen, war es auch gut, dass Plutarch euch drei gekidnappt hat.«
»Wir sind das einzige Vorbereitungsteam, das noch am Leben ist. Auch alle Stylisten vom Jubel-Jubiläum sind tot«, sagt Venia. Sie sagt nicht, wer sie getötet hat. Ich frage mich langsam, ob das überhaupt noch eine Rolle spielt. Behutsam nimmt sie meine vernarbte Hand und inspiziert sie. »Hm, was meinst du? Die Nägel rot oder lieber rabenschwarz?«
Flavius vollbringt ein Wunder mit meinem Haar, zaubert einen gleichmäßigen Pony und überdeckt mit ein paar der längeren Locken die kahlen Stellen am Hinterkopf. Mein von den Flammen verschontes Gesicht birgt nur die üblichen Herausforderungen. Sobald ich in Cinnas Spotttölpelkostüm geschlüpft bin, sieht man nur noch die Narben an Hals, Unterarmen und Händen. Octavia befestigt die Spotttölpelbrosche über meinem Herzen, und wir treten einen Schritt zurück, um mich im Spiegel anzuschauen. Ich kann kaum glauben, wie normal ich dank ihrer äußerlich aussehe, wo ich innerlich doch eine Wüste bin.
Es klopft und Gale kommt herein. »Hast du kurz Zeit?«, fragt er mich. Im Spiegel betrachte ich mein Vorbereitungsteam. Sie sind unschlüssig, wohin sie gehen sollen, deshalb laufen sie ein paarmal ineinander und schließen sich dann im Badezimmer ein. Gale tritt hinter mich und wir mustern das Spiegelbild des anderen. Ich suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann, etwas von dem Mädchen und dem Jungen, die sich vor fünf Jahren zufällig im Wald getroffen haben und unzertrennlich wurden. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn die Hungerspiele dieses Mädchen nicht weggeholt hätten. Hätte es sich in den Jungen verliebt, ihn vielleicht sogar geheiratet? Wären sie irgendwann später, wenn die Geschwister groß geworden wären, in den Wald geflohen und hätten Distrikt 12 für immer hinter sich gelassen? Wären sie glücklich geworden in der Wildnis oder hätte sich die dunkle, tiefe Trauer zwischen ihnen auch ohne Zutun des Kapitols ausgebreitet?
»Ich habe dir was mitgebracht.« Gale hält einen Köcher hoch. Ich nehme ihn und sehe, dass er nur einen einzigen, gewöhnlichen Pfeil enthält. »Es soll ein symbolischer Akt sein. Du feuerst den letzten Schuss dieses Krieges ab.«
»Und wenn ich danebenschieße?«, frage ich. »Holt Coin den Pfeil wieder und bringt ihn mir? Oder schießt sie Snow dann einfach selbst in den Kopf?«
»Du wirst nicht danebenschießen.« Gale hängt mir den Köcher um die Schulter.
Wir stehen uns gegenüber, ohne uns in die Augen zu schauen. »Du hast mich nicht in der Krankenstation besucht.« Er antwortet nicht, deshalb spreche ich es irgendwann einfach aus. »War das deine Bombe?«
»Ich weiß nicht. Und Beetee auch nicht«, sagt er. »Spielt das eine Rolle? Du wirst sowieso immer daran denken.«
Er wartet darauf, dass ich es abstreite; ich würde es gern abstreiten, aber es ist die Wahrheit. Selbst jetzt kann ich den Blitz sehen, der sie erfasst, kann die Hitze der Flammen fühlen. Und es wird mir nie mehr möglich sein, diesen Augenblick von Gale zu lösen. Mein Schweigen ist meine Antwort.
»Ich hatte es mir fest vorgenommen. Auf deine Familie aufzupassen«, sagt er. »Nicht danebenschießen, okay?« Er berührt meine Wange und geht. Ich möchte ihn zurückrufen und ihm sagen, dass ich mich geirrt habe. Dass ich einen Weg finden werde, wie ich meinen Frieden mit dieser Sache mache. Indem ich mich an die Umstände erinnere, unter denen er die Bombe schuf. Meine eigenen unentschuldbaren Verbrechen bedenke. Herauszufinden versuche, wer die Fallschirme wirklich abgeworfen hat. Beweise, dass es nicht die Rebellen waren. Ihm verzeihe. Aber es geht nicht, und da ich es nicht kann, werde ich mit dem Schmerz leben müssen.