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»Den Weg hättest du dir sparen können. Sie ist nicht hier«, erkläre ich ihm. Butterblume faucht noch einmal. »Sie ist nicht hier. Da kannst du fauchen, solange du willst. Du wirst Prim nicht finden.« Bei ihrem Namen horcht er auf. Spitzt die angelegten Ohren. Fängt an, hoffnungsfroh zu miauen. »Hau ab!« Er weicht dem Kissen aus, das ich nach ihm werfe. »Geh weg! Hier ist für dich nichts mehr zu holen!« Plötzlich zittere ich vor Wut. »Sie kommt nicht zurück! Sie wird nie mehr wiederkommen!« Ich greife wieder nach einem Kissen und stehe auf, um besser zielen zu können. Aus dem Nichts beginnen mir die Tränen über die Wangen zu laufen. »Sie ist tot.« Ich habe die Arme um mich geschlungen, um den Schmerz zu lindern. Sinke auf die Fersen, wiege das Kissen, weine. »Sie ist tot, du dummer Kater. Sie ist tot.« Ein neuer Laut, halb Weinen, halb Singen, kommt aus meinem Körper, gibt meiner Verzweiflung eine Stimme. Butterblume fängt ebenfalls an zu wimmern. Egal, was ich tue, er lässt sich nicht vertreiben. Er umkreist mich, gerade außerhalb meiner Reichweite, während die Schluchzer in Wellen durch meinen Körper fahren, bis ich irgendwann das Bewusstsein verliere. Aber er muss es verstanden haben. Er muss verstanden haben, dass das Undenkbare geschehen ist und er Undenkbares tun muss, wenn er überleben will. Denn Stunden später, als ich ins Bett gehe, liegt er da im Mondlicht. Neben mir kauernd, mit wachsamen gelben Augen, schaut er mich aus der Nacht heraus an.

Am Morgen bleibt er stoisch sitzen, während ich seine Wunden säubere, nur als ich ihm einen Dorn aus der Pfote ziehe, maunzt er wie ein Kätzchen. Wieder müssen wir beide weinen, aber diesmal trösten wir uns gegenseitig. Dadurch gestärkt, öffne ich den Brief meiner Mutter, den Haymitch mir damals gegeben hat, wähle die Nummer und weine auch mit ihr. Greasy Sae kommt in Peetas Begleitung, der unterm Arm einen warmen Laib Brot trägt. Sie bereitet uns ein Frühstück und ich verfüttere all meinen Speck an Butterblume.

Langsam, mit vielen verlorenen Tagen, finde ich ins Leben zurück. Ich versuche die Anweisung von Dr. Aurelius zu befolgen, einfach weiterzumachen, und wundere mich, wenn irgendwas plötzlich wieder eine Bedeutung bekommt. Ich erzähle ihm von meiner Idee mit dem Buch, und mit dem nächsten Zug aus dem Kapitol trifft eine große Kiste Pergamentpapier ein.

Das Pflanzenbuch der Familie hat mich auf die Idee gebracht. In dem wir alles festhielten, was wir vor dem Vergessen bewahren wollten. Jede Seite dieses neuen Buches beginnt mit einem Bild der jeweiligen Person. Ein Foto, falls vorhanden. Ansonsten eine Zeichnung von Peeta. In meiner besten Handschrift folgen sodann all die Einzelheiten, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Wie Lady Prims Wange leckt. Das Lachen meines Vaters. Peetas Vater mit den Plätzchen. Die Farbe von Finnicks Augen. Was Cinna aus einem Stück Seide machen konnte. Boggs, der das Holo umprogrammiert. Rue, auf den Zehenspitzen balancierend, die Arme leicht angehoben, wie ein Vogel, der gleich abhebt. Und immer weiter. Wir versiegeln die Seiten mit Tränen und dem Versprechen, gut zu leben, damit ihr Tod nicht vergeblich war. Auch Haymitch gesellt sich zu uns und trägt die Tribute aus den dreiundzwanzig Jahren bei, in denen er gezwungen war, den Mentor zu spielen. Irgendwann werden die Einträge weniger. Ab und zu noch eine alte Erinnerung, die auftaucht. Eine späte Primel, die wir zwischen den Seiten aufbewahren. Seltene Momente der Freude, wie das Foto von Finnicks und Annies neugeborenem Sohn.

Wir lernen, wieder unseren Beschäftigungen nachzugehen. Peeta backt. Ich jage. Haymitch trinkt, bis der Schnaps alle ist, dann züchtet er Gänse, bis der nächste Zug eintrifft. Zum Glück können die Gänse ganz gut selbst für sich sorgen. Wir sind nicht allein. Ein paar Hundert andere kommen zurück, denn was immer passiert ist, dies ist unsere Heimat. Da die Bergwerke geschlossen wurden, pflügen sie die Asche unter und bauen Nahrungsmittel an. Baumaschinen aus dem Kapitol bereiten den Boden für eine neue Fabrik, in der Arzneimittel hergestellt werden sollen. Die Weide wird wieder grün, obwohl dort niemand gesät hat.

Peeta und ich nähern uns wieder an. Es gibt immer noch Augenblicke, da muss er sich an einer Stuhllehne festhalten, bis die Schatten der Vergangenheit vorbeigezogen sind. Ich erwache aus Albträumen von Mutationen und verlorenen Kindern. Aber seine Arme sind wieder da, um mich zu trösten. Und schließlich auch seine Lippen. Nachts empfinde ich wieder diesen Hunger, der mich damals am Strand überrascht hat, und ich weiß, dass es so oder so passiert wäre. Dass ich zum Überleben nicht Gales Feuer, das von Zorn und Hass genährt wird, brauche. Feuer habe ich selbst genug. Was ich brauche, ist der Löwenzahn im Frühling. Das leuchtende Gelb, das für die Wiedergeburt steht und nicht für Zerstörung. Ein Versprechen, dass das Leben weitergeht, ungeachtet unserer Verluste. Dass es wieder gut werden kann. Und das kann nur Peeta mir geben.

Und wenn er mich fragt: »Du liebst mich. Wahr oder nicht wahr?«, dann antworte ich: »Wahr.«

Epilog

Sie spielen auf der Weide. Das tanzende Mädchen mit dem dunklen Haar und den blauen Augen. Der Junge mit den blonden Locken und den grauen Augen, der auf seinen pummeligen Kleinkindbeinen mit seiner Schwester Schritt zu halten versucht. Es hat fünf, zehn, fünfzehn Jahre gedauert, bis ich eingewilligt habe. Doch Peeta wollte sie unbedingt. Als ich das erste Mal spürte, wie sie sich in mir bewegt, packte mich ein Schrecken, der so alt ist wie das Leben selbst. Nur die Freude, sie in meinen Armen zu halten, konnte ihn bändigen. Bei ihm fiel es mir dann schon ein wenig leichter.

Langsam kommen auch die Fragen. Die Arenen sind völlig zerstört worden, Gedenkstätten errichtet, es gibt keine Hungerspiele mehr. Aber im Schulunterricht wird darüber gesprochen, und das Mädchen weiß, dass wir eine Rolle darin hatten. Der Junge wird es in ein paar Jahren erfahren. Wie kann ich ihnen von dieser Welt erzählen, ohne sie zu Tode zu erschrecken? Meine Kinder, die den Text des Liedes für bare Münze nehmen:

Auf dieser Wiese unter der Weide,

Ein Bett aus Gras, ein Kissen wie Seide.

Dort schließe die Augen, den Kopf lege nieder,

Wenn du erwachst, scheint die Sonne wieder.

Hier ist es sicher, hier ist es warm,

Hier beschützt dich der Löwenzahn.

Süße Träume hast du hier und morgen erfüllen sie sich.

An diesem Ort, da lieb ich dich.

Meine Kinder, die nicht wissen, dass sie auf einem Friedhof spielen.

Peeta sagt, dass alles gut wird. Wir haben uns. Und das Buch. Wir können es ihnen irgendwie so begreiflich machen, dass sie gestärkt daraus hervorgehen. Eines Tages jedoch werde ich ihnen von meinen Albträumen erzählen müssen. Woher sie kommen. Warum sie nie mehr ganz verschwinden werden.

Ich werde ihnen erzählen, wie ich es überlebe. Ich werde ihnen sagen, dass es mir an schlechten Tagen morgens unmöglich erscheint, mich an irgendetwas zu erfreuen, weil die Angst, es zu verlieren, übermächtig ist. Dann mache ich mir eine Liste im Kopf und verzeichne darauf jeden Akt der Güte, den ich je erlebt habe. Es ist wie ein Spiel. Immer das gleiche. Fast ein bisschen langweilig nach über zwanzig Jahren.

Aber es gibt viel schlimmere Spiele.

ENDE

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