JOHN WYNDHAM "DIE TRIFFIDS"
Das Ende beginnt
Das St.-Merryns-Spital lag an einer Hauptstraße, nahe einer verkehrsreichen Kreuzung; weshalb man es da hingebaut hatte und die Nerven der Patienten einer dauernden Belastung aussetzte, habe ich nie ergründen können. Den weniger empfindlichen Kranken mochte der ununterbrochene Verkehrslärm das Gefühl geben, daß sie auch in ihren Betten dem Leben nahe blieben.
Die Stille an diesem Morgen war befremdlich. Sie hatte etwas Beunruhigendes und Geheimnisvolles. Kein Räderknarren, kein Motorenlärm, überhaupt kein Fahrgeräusch. Kein Hupensignal war zu hören, nicht einmal der Hufschlag eines der seltenen Pferde, die noch zuweilen vorbeiklapperten. Auch nicht das Getrappel der Menge. Und es war doch die Zeit, wo alles zur Arbeit ging.
Je länger ich horchte, um so seltsamer und unheimlicher wirkte diese Lautlosigkeit. Innerhalb von, schätzungsweise, zehn Minuten gespannten Horchens unterschied ich fünf Paare von schlürfenden, zögernden Schritten, drei Stimmen, die in der Ferne Unverständliches riefen, und das hysterische Weinen einer Frau. Kein Taubengurren, kein Spatzengezwit-scher. Nichts. Nur das Harfen des Windes in den Drähten ...
Ein widriges, unheimliches Gefühl beschlich mich, ein Grauen, wie ich es manchmal als Kind empfun-den hatte, wenn ich Schreckgestalten in den finsteren Winkeln des Schlafzimmers lauern zu sehen glaubte.
Ich mußte dieses Grauen niederkämpfen, wie ich es einst als Kind niedergekämpft hatte. Und es war nicht leichter als damals. Noch immer waren die elementa-ren Ängste da und warteten auf eine günstige Gelegenheit, um mich unterzukriegen, und beinahe wäre es ihnen geglückt: bloß weil meine Augen verbunden waren und der Verkehr stillstand ...
Aber ich ließ mich nicht unterkriegen.
Die Versuchung, einen Blick zu tun, einen einzigen kleinen Blick, um zu sehen, was los war, war ungeheuer. Aber ich wehrte sie ab. Die Sache war nämlich gar nicht so leicht. Ich trug ja nicht einfach nur eine Binde vor den Augen, sondern einen komplizierten Verband. Und außerdem hatte ich Angst. Nach einer Woche vollkommenen Blindseins scheut man jedes Risiko. Gewiß, man wollte mir heute den Verband abnehmen, aber das würde nicht bei hellem Tageslicht geschehen, und die endgültige Entscheidung hing vom Ergebnis der Untersuchung ab. Und das war mir natürlich unbekannt. Mein Sehvermögen war vielleicht für immer geschädigt. Vielleicht konnte ich überhaupt nicht sehen. Ich wußte es nicht ...
Fluchend drückte ich auf den Klingelknopf.
Niemand kam. Mit der Unruhe wuchs auch der Ärger. Schlimm genug, wenn man auf fremde Hilfe angewiesen ist, schlimmer noch, wenn diese Hilfe ausbleibt.
Ich schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Ich hatte das Zimmer, in dem ich lag, nie gesehen, glaubte aber nach dem Gehör gut genug orientiert zu sein; dennoch war es gar nicht leicht, die Türe zu finden. Ich hatte eine ganze Menge unerwarteter Hindernisse zu überwinden, stieß mir eine Zehe wund, auch das Schienbein bekam etwas ab, ehe ich mein Ziel erreichte. Ich öffnete die Tür und schrie in den Flur hinaus:
»Hallo! Frühstück auf Zimmer achtundvierzig!«
Einen Augenblick lang blieb es still. Dann brach Tumult los. Es war, als schrien Hunderte auf einmal, kein Wort ließ sich unterscheiden. Ein Alptraumge-fühl überkam mich. War ich noch im St. Merryns-Spital? Oder hatte man mich, während ich schlief, in eine Irrenanstalt geschafft? Dieses Geschrei konnte nicht von normalen, vernünftigen Menschen kommen. Hastig schlug ich die Tür zu und tappte mich in mein Bett zurück. Das Bett erschien mir in diesem Augenblick als der einzige sichere Zufluchtsort in einer unbegreiflich gewordenen Welt. Von der Straße herauf gellte ein wilder Aufschrei. Dreimal zerriß er die Stille. Und man glaubte ihn noch zu hören, als er längst verhallt war.
Da überwältigte mich das Grauen. Ich fühlte, wie mir unter dem Verband der Schweiß auf die Stirn trat. Ich wußte nun, es geschah etwas Furchtbares, etwas Entsetzliches. Ich konnte meine Verlassenheit und Hilflosigkeit nicht länger ertragen. Ich mußte Klarheit haben über das, was um mich vorging. Ich tastete nach den Bandagen und hatte die Finger schon an den Sicherheitsnadeln, als ich innehielt ...
Und wenn nun die Behandlung erfolglos geblieben war? Wenn sich, nachdem der Verband entfernt war, herausstellte, daß ich noch immer nicht sehen konnte? Das würde noch schlimmer sein, tausendmal schlimmer ...
Ich ließ die Hände sinken und legte mich zurück.
Erst nach einer Weile war ich wieder fähig, vernünftig zu denken; aufs neue grübelte ich nach einer möglichen Erklärung. Ich fand keine. Doch mehr und mehr festigte sich bei mir die Überzeugung, daß Mittwoch war, mochte sonst geschehen sein was immer. Denn der Vortag war ungewöhnlich gewesen.
Und daß seither nur eine einzige Nacht vergangen war, das konnte ich beschwören.
Den Berichten zufolge kreuzte Dienstag, den 7. Mai, eine Meteoritenwolke, der Überrest eines Kometen, die Erdbahn. Möglich. Millionen glaubten es jedenfalls. Mein Anteil an dem Ereignis beschränkte sich aufs Zuhören; ich lag im Bett und mußte den ganzen Abend die Augenzeugenberichte über ein Himmelsphänomen anhören, das als das unerhörteste seit Menschengedenken bezeichnet wurde.
Seltsam war, daß vor dem Einsetzen der Erscheinungen niemand ein Sterbenswort über den angebli-chen Kometen oder Kometenrest gehört hatte.
Warum die Radioübertragungen stattfanden, weiß ich nicht; es war ohnedies alles, was gehen, humpeln oder getragen werden konnte, vor den Türen oder an den Fenstern, um das großartigste Gratisfeuerwerk aller Zeiten zu bewundern. Auf mich wirkten diese Sendungen deprimierend, ich fühlte mit grausamer Klarheit, was es hieß, ohne Augenlicht zu sein. War die Behandlung erfolglos geblieben, dann schien es mir besser, ein Ende zu machen, als so weiterzuleben.
Schon tagsüber war gemeldet worden, daß man in der vorangegangenen Nacht rätselhafte grüne Blitze und Lichterscheinungen über Kalifornien beobachtet hatte.
Dann kamen aus dem ganzen pazifischen Raum Berichte über einen grünen Lichtregen, der die Nacht erhellt hatte, ungeheure Meteoritenschwärme waren gefallen, manchmal, so hieß es, in einer solchen Unzahl, daß es schien, als stürze der Himmel herab; und er stürzte ja auch wirklich herab, wie sich später herausstellte.
Als die Nacht westwärts rückte, blieb der Glanz der Erscheinung unvermindert. Schon vor dem Einbruch der Dunkelheit wurden vereinzelte grüne Lichtblitze sichtbar.
Als sei es mit den Radiosendungen nicht genug, mußte ich, als die Schwester mit dem Abendessen kam, einen weiteren Augenzeugenbericht über mich ergehen lassen.
»Der Himmel ist voller Sternschnuppen«, sagte sie.
»Alle hellgrün, ein förmlicher Regen. Die Leute haben dabei ganz fahle Gesichter. Alles ist auf und im Freien. Manchmal ist es taghell, nur die Farben sind anders. Hie und da ist das Licht so grell, daß es einem in den Augen weh tut. Aber der Anblick ist wunderbar. Etwas noch nie Dagewesenes, heißt es. Schade, daß Sie es nicht sehen können.«
»Schade«, antwortete ich etwas kurz.
Etwas später kam die Durchsage, daß die Erscheinung im Abflauen sei. Der Sprecher empfahl Eile, denn wer dieses Schauspiel versäumt habe, würde es sein Leben lang bedauern.
Es war, als sollte mir die Überzeugung eingehämmert werden, daß ich um das Hauptereignis meines Lebens gekommen sei.
Das alles war am vorigen Abend geschehen, das stand fest und außer Zweifel. Was aber war nachher passiert? Hatten sich das Spitalpersonal und die ganze Stadt von der nächtlichen Aufregung noch nicht erholt, lag alles in den Federn?
Da wurden meine Überlegungen unterbrochen, der Chor der Uhren begann fern und nah neun zu schlagen.
Ich läutete wieder. Und wartete. Vom Flur her kam ein unbestimmtes Geräusch, es hörte sich an wie ein Wimmern, Schlurfen und Tappen, hie und da übertönt von fernen Rufen.