Aber niemand kam.
Ich wurde rückfällig. Die Schrecken und Alp-traumgestalten der Kindheit waren wieder um mich.
Nein, ich bin kein Hasenfuß und Geisterseher, wirklich nicht ... Die verdammten Binden um die Augen und die Schreie im Flur waren schuld, daß meine Nerven versagten. Das Grauen hatte mich gepackt.
Zuletzt kam es auf die Frage an: was fürchtete ich mehr, die Gefährdung meines Augenlichts durch die vorzeitige Abnahme des Verbands, oder die Finsternis und die wachsende Angst?
Ich weiß nicht, welche Entscheidung ich ein, zwei Tage früher getroffen hätte – wahrscheinlich zuletzt die gleiche –, an diesem Morgen durfte ich mir wenigstens sagen:
»Verflucht nochmal, viel Schaden kann ich doch nicht anrichten, wenn ich Verstand gebrauche. Der Verband sollte ja heute herunter. Ich will es riskie-ren.«
Ich stieg aus dem Bett und ließ die Rollvorhänge herab, ehe ich daran ging, die Sicherheitsnadeln los-zumachen.
Sobald ich die Binden abgewunden hatte und merkte, daß ich im Dämmer sehen konnte, fühlte ich eine Erleichterung wie nie in meinem Leben. Ich begann meine Fassung wiederzugewinnen. Eine ganze Stunde ließ ich mir Zeit, um mich wieder an das volle Tageslicht zu gewöhnen. Als sie um war, fand ich, daß ich so gut sah wie immer; schnelle erste Hilfe und die Kunst der Ärzte hatten mir das Augenlicht gerettet.
Aber noch immer kam niemand.
Im unteren Fach des Nachtkästchens fand ich vor-sorglich eine dunkle Brille bereitgelegt. Vorsichtshalber setzte ich sie auf, ehe ich ans Fenster trat. Ich gewahrte ein, zwei Passanten, die auf eine wunderliche ziellose Art dahinzuwandern schienen. Was mir aber weit mehr und sogleich auffiel, war die klare Sicht, die Schärfe der Umrisse auch des fernen Dächerpan-oramas. Und dann entdeckte ich, daß nirgends Rauch aufstieg, kein Schornstein qualmte weit und breit ...
Ich fand meine Kleider fein säuberlich in den Schrank gehängt. Ich fühlte mich sofort dem Normalzustand näher, als ich sie angezogen hatte. Ein paar Zigaretten waren noch im Etui. Ich zündete eine davon an.
Langsam wurde ich ruhiger.
Dann öffnete ich die Tür und schritt vorsichtig hinaus.
Auf einer Seite endete der Flur vor einer verdun-kelten Glastür, auf der sich der Schatten eines Bal-kongeländers abzeichnete, ich schlug daher die ent-gegengesetzte Richtung ein. Als ich um eine Ecke ge-bogen war, hatte ich den Seitentrakt mit den Einzel-zimmern verlassen und befand mich in einem breite-ren Gang.
Auch er schien auf den ersten Blick leer, dann aber gewahrte ich eine Gestalt, die sich aus einem Schatten hervorbewegte. Es war ein Mann in dunkler Straßen-kleidung, nach dem weißen Mantel zu schließen, den er darüber trug, einer der Spitalärzte – seltsam war nur die Art, wie er tappend an der Wand entlang schlich.
»Herr Doktor«, sprach ich ihn an.
Er zuckte zusammen. Das Gesicht, das er mir zuwandte, war grau und angstvoll.
»Wer sind Sie?« fragte er unsicher.
»Mein Name ist Masen«, antwortete ich. »William Masen. Patient auf Zimmer 48. Ich möchte mich nur erkundigen, warum –«
»Sie können sehen?« unterbrach er mich rasch.
»Sicher. So gut wie früher«, erklärte ich. »Alles ist wunderbar geheilt. Da niemand gekommen ist, mir den Verband abzunehmen, habe ich es selbst getan.
Schaden, glaube ich, habe ich dabei nicht angerichtet.
Ich habe –«
Wieder unterbrach er mich.
»Bitte, führen Sie mich zu meinem Zimmer. Ich muß sofort anrufen.«
»Wo ist Ihr Zimmer?« fragte ich.
»Fünfter Stock, Westtrakt. Mein Name steht an der Tür – Doktor Soames.«
»Wo sind wir jetzt?« fragte ich.
»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« sagte er bitter. »Sie haben Augen. Machen Sie sie auf, verdammt noch mal. Sehen Sie denn nicht, daß ich blind bin?«
Es war ihm nicht anzusehen. Er schien mich mit seinen weit offenen Augen anzublicken.
»Warten Sie hier eine Minute«, sagte ich. Ich schaute umher. Gegenüber dem Liftausstieg war eine große 5 an die Wand gemalt. Ich ging zurück und sagte ihm das.
»Gut. Fassen Sie meinen Arm«, unterwies er mich.
»Sie wenden sich, von der Lifttür kommend, nach rechts und biegen dann in den ersten Gang nach links ab. Meine Tür ist die dritte.«
Ich befolgte seine Anweisungen. Unterwegs trafen wir niemand. Im Zimmer führte ich ihn zu dem Schreibpult und übergab ihm den Apparat. Er horchte eine Weile. Dann tastete er nach der Hörer-gabel und rüttelte ungeduldig daran. Langsam wich der gereizte und gequälte Ausdruck aus seinem Gesicht. Er sah nur noch müde aus – sehr müde. Er legte den Hörer auf das Pult. Ein paar Augenblicke stand er reglos und schien die Wand vor sich anzustarren.
Dann wandte er den Kopf.
»Es ist zwecklos – alles still. Sind Sie noch da?«
fügte er hinzu.
»Ja«, antwortete ich. Seine Finger tasteten die Pult-kante entlang. »In welcher Richtung stehe ich jetzt?
Wo ist das verdammte Fenster?« fragte er mit neuauf-flackernder Gereiztheit. »Sie brauchen sich nur um-zudrehen«, sagte ich.
Er tat es und ging mit vorgehaltenen Händen darauf zu und befühlte sorgfältig Brett und Rahmen.
Dann trat er einen Schritt zurück. Ehe ich erkannte, was er vorhatte, war er mit voller Wucht vorge-sprungen und hinausgestürzt ...
Ich sah nicht hinunter. Es war der fünfte Stock.
Als ich wieder imstande war, mich zu bewegen, konnte ich mich nur in den Sessel fallen lassen. Auf dem Pult lag eine Schachtel mit Zigaretten, ich zündete mit flatternden Händen eine an. So blieb ich ein paar Minuten sitzen, um den Schock etwas verebben zu lassen. Dann verließ ich das Zimmer und ging zu der Stelle zurück, wo ich ihm begegnet war. Ich fühlte mich noch ganz schwach und elend, als ich hinkam.
Am Ende dieses breiten Ganges war ein Kranken-saal.
Ich öffnete die Tür.
»Schwester?« fragte ich.
»Ist nicht da«, antwortete eine Männerstimme. »Ist schon seit Stunden weg«, fuhr der Sprecher fort.
»Weiß der Kuckuck, was heut früh in der verflixten Bude los ist. Aber können Sie nicht etwas Licht zu uns 'reinlassen, Landsmann, und die verflixten Vorhänge zurückziehen?«
»Gern«, gab ich zur Antwort.
Wenn's hier schon drunter und drüber ging, so sah ich nicht ein, warum die armen Teufel von Patienten im Finstern liegen sollten.
Ich zog die Vorhänge vom nächsten Fenster zu-rück, und helles Sonnenlicht flutete in den Raum.
»Trödeln Sie nicht so lange herum, Mann«, sagte die Stimme von vorhin. »Ziehen Sie die Dinger einfach weg.«
Ich drehte mich um und sah den Sprecher an. Ein dunkelhaariger Mensch, stämmig, das Gesicht wet-tergebräunt. Er saß aufrecht im Bett, mir voll zugewendet – und dem Licht. Er schien mir unverwandt in die Augen zu blicken. Ebenso sein Nachbar und der nächste Mann ...
Ich starrte zurück. Eine gute Weile. Ich begriff nicht gleich. Dann stotterte ich: »Da, da scheint was kaputt zu sein. Warten Sie mal. Ich schicke jemand.«
Und dann machte ich, daß ich aus dem Saal kam.
Wieder packte es mich. Das war ja unmöglich. Die Leute im Saal konnten doch nicht alle blind sein, so blind wie der Arzt, und dennoch ...
Der Lift war nicht in Betrieb, ich mußte über die Stiegen hinunter.
Und dann stand ich auf dem letzten Treppenabsatz und konnte in die große Halle hinunterblicken. Anscheinend hatte alles was sich bewegen konnte, instinktiv hier Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, Hilfe zu finden oder den Weg ins Freie. Vielleicht war es einigen gelungen. Beim Haupteingang stand eine Tür weit offen, nur konnten sie die meisten nicht finden.
Da unten war eine eng zusammengepreßte Menschenmasse, Männer und Frauen, meist noch in ihren Nachtkleidern, die sich langsam und hilflos im Kreise umherwälzte.