Ich sehe ihn noch vor mir, wie er die unsere betrachtete und prüfte, als sie etwa ein Jahr alt war. Sie war halb so groß wie eine ganz ausgereifte Triffid, bot aber sonst in jeder Einzelheit das genaue Bild einer reifen, die damals noch kein Mensch gesehen und die auch noch keinen Namen hatte. Vorgebeugt, musterte sie mein Vater durch seine Hornbrille. Er untersuchte den geraden Schaft und den holzigen Strunk, aus dem er hervorwuchs. Ebenso die drei kurzen kahlen Stiele neben dem Stengel. Er rieb die kurzen, lederartigen, grünen Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger, als könne ihm ihre Beschaffenheit irgendeinen Aufschluß geben. Dann spähte er in das sonderbare trichterartige Gebilde auf der Spitze des Stengels, kam aber auch hier zu keinem Ergebnis. Ich erinnere mich, wie er mich das erstemal emporhob, um mich in diesen Trichter hineinblicken zu lassen, so daß ich den dichtbefiederten Kolben sehen konnte, der, nicht unähnlich einem eng zusammengerollten Farnwedel, ein paar Zoll hoch im Grund des Kelches aus einer klebrigen Masse herausragte; ich rührte sie nicht an, merkte aber, daß sie klebrig sein mußte, an den Fliegen und kleinen Insekten, die darin zappelten.
Das Ding in unserem Garten hatte inzwischen eine Höhe von etwa vier Fuß erreicht. Es muß damals schon eine Menge gegeben haben; still und unauffällig wuchsen sie und von niemand besonders beachtet, es sah zumindest so aus. Und so wuchs sie in unserem Garten ungestört weiter wie tausend andere in den abgelegenen Winkeln der ganzen Welt.
Wenig später geschah es, daß die erste ihre Wurzeln hob und zu wandern begann.
Diese unwahrscheinliche Leistung muß natürlich in Rußland schon einige Zeit bekannt gewesen sein und galt dort zweifellos als Staatsgeheimnis. Innerhalb weniger Wochen kamen Meldungen über wandernde Pflanzen aus Sumatra, Borneo, Belgisch-Kongo, Ko-lumbien, Brasilien und anderen äquatornahen Ländern.
Diesmal tat auch die Presse mit. Doch ihre Berichte waren mit ironischer Distanz abgefaßt. Kein Leser konnte dabei auf den Gedanken verfallen, diese sen-sationelle Pflanze in irgendeine Verbindung zu bringen mit dem unbeachteten schlichten Gewächs neben unserem Müllhaufen. Erst an den Bildern erkannten wir, daß es, von der Größe abgesehen, die gleiche Pflanze war.
Viel brachten auch die Wochenschauen nicht. So kam es, daß das erste, was ich von einer sowohl für mich wie für viele andere entscheidenden und schicksalbestimmenden Entwicklung zu sehen bekam, nur ein sekundenschnell vorüberhuschendes Szenenbild war.
Solange die Szene lief, starrte ich wie gebannt auf die Leinwand. Da war ja unser geheimnisvolles Müllhaufengewächs. Allerdings sieben Fuß hoch, wenn nicht höher. Keine Frage, es war unsere Pflanze
– und sie konnte ›gehen‹!
Der Strunk, den ich nun zum erstenmal sah, war mit zottigen Wurzelhaaren bewachsen. Man hätte ihn beinahe kugelförmig nennen können, wären nicht an der Unterseite drei kurze Stumpen hervorgewachsen.
Durch sie wurde der Hauptkörper etwa einen Fuß hoch über den Boden gehoben. – Beim ›Gehen‹ bewegte sich die Pflanze wie ein Mensch auf Krücken.
Die zwei Vorderstumpen glitten vorwärts und dann ruckte der Hinterfuß nach, fast bis zur gleichen Linie, das ganze Gewächs kippte dabei nahezu um, dann rutschten die Vorderstumpen aufs neue vorwärts. Bei jedem ›Schritt‹ schwankte der lange Stengel heftig vor- und rückwärts. Die Geschwindigkeit entsprach ungefähr der eines Fußgängers.
Das war alles, was ich in der Wochenschau zu sehen bekam. Es war nicht viel, genügte aber, um meinen jugendlichen Forscherdrang in Bewegung zu bringen. Wenn das Gewächs in Ecuador so etwas leisten konnte, mußte es das Exemplar in unserem Garten doch auch imstande sein?
Ich war keine zehn Minuten daheim, da war ich schon dabei, rund um unsere Triffid den Boden zu lockern, um sie zum ›Gehen‹ zu ermuntern.
Leider hatte diese selbständig schreitende Pflanze eine fatale Eigenheit, die den Filmleuten entweder unbekannt geblieben war oder die sie aus irgendeinem Grund verschwiegen. Es erfolgte auch keine Warnung. Ich hatte mich eben gebückt, um die Erde zu lockern, ohne die Pflanze zu beschädigen, als ich plötzlich, ich wußte nicht woher, einen furchtbaren Schlag erhielt, der mich bewußtlos zu Boden warf ...
Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, lag ich im Bett; Vater, Mutter und der Arzt umstanden mich mit sorgenschweren Mienen. Mein Kopf fühlte sich an wie geborsten, der ganze Körper schmerzte und, wie ich später entdeckte, war eine Gesichtshälfte mit einer wulstigen roten Strieme geziert. Alles Fragen nach der Ursache meiner Ohnmacht im Garten führte zu keinem Ergebnis; ich hatte keine Ahnung, woher der Schlag gekommen war. Und es verging noch einige Zeit, ehe ich erfuhr, daß ich einer der ersten in England war, die den Stich einer Triffid überlebt hatten.
Natürlich nicht einer ausgereiften Triffid. Mein Vater entdeckte noch vor meiner völligen Genesung den Unheilstifter, und als ich wieder in den Garten durfte, war das Strafgericht schon vollzogen und die Triffid ins Feuer geworfen worden.
Nun, da die wandernden Pflanzen zu den erwiese-nen Tatsachen gehörten, sorgte die Presse für die ge-bührende Propaganda. Ein Name mußte gefunden werden. In irgendeiner Redaktion als geläufiges Schlagwort für eine Kuriosität entstanden, sollte er eines Tages etwas ganz anderes werden, das Lo-sungswort für eine Katastrophe, für Schmerz, Angst und Unheiclass="underline" TRIFFID ...
Die erste Welle des öffentlichen Interesses verebbte bald. Zugegeben: Triffids waren etwas unheimlich.
Weil sie neu waren. Andere Neuheiten hatten ähnlich gewirkt: Känguruhs, Rieseneidechsen, schwarze Schwäne. Hier war eine Pflanze, die gehen gelernt hatte; warum nicht?
Freilich, nicht alles ließ sich so leicht abtun. Ihre Herkunft blieb unbekannt. Die Russen, die darüber hätten Auskunft geben können, hüllten sich in das gewohnte Schweigen. Umberto wurde auch von denen, die ihn kannten, noch nicht mit den Triffids in Verbindung gebracht. Ihr plötzliches Auftauchen, und mehr noch, ihre weltweite Verbreitung erregten Staunen. Denn sie reiften zwar in den Tropen schneller, fanden sich aber in den verschiedensten Ent-wicklungsstadien in allen Regionen der Erde, die Polarkreise und die Wüsten ausgenommen.
Überraschend und etwas widerwärtig wirkte es, als man feststellte, daß die Pflanze ein Fleischfresser war; die Fliegen nämlich und die anderen Insekten, die in den Kelch gerieten, wurden von der klebrigen Masse darin wirklich aufgelöst und verdaut. Wahrhaft erschreckend aber war die Entdeckung, daß der Kolben auf der Spitze des Stengels ein Giftstachel war, der zehn Fuß weit ausschwingen und eine tödliche Ladung Gift verspritzen konnte, wenn er die bloße ungeschützte Haut traf.
Diese Entdeckung löste ein Massaker unter den Triffids aus, bis jemand auf den Einfall kam, daß die Entfernung des Stachels genügte, um die Pflanze unschädlich zu machen. Danach flaute die Ausrottungswut ab; die Zahl der Pflanzen allerdings hatte merklich abgenommen. Kurz darauf wurde es Mode, die eine oder andere beschnittene Triffid als Gartenpflanze zu halten. Der Giftstachel brauchte zwei Jahre, um nachzuwachsen, also sicherte einen der jährlich wiederholte Schnitt vor jeder Gefahr, und die harmlos gewordenen Gewächse machten vor allem den Kindern großen Spaß.
In unseren Breiten, wo der Mensch fast die ganze Natur, außer seiner eigenen, gezähmt hat, bildeten die Triffids keine Bedrohung. Anders lagen die Dinge in den Tropen; dort wurden sie, besonders in unweg-samen Waldgebieten, eine wahre Geißel.
Im dichten Gestrüpp übersah sie der Reisende leicht, war er in Reichweite, schlug der Giftstachel zu.
Auch für den Eingeborenen war es schwierig, eine im Dickicht verborgen lauernde Triffid zu entdecken.
Die Pflanze spürte jede Bewegung in ihrer Nähe und ließ sich nicht leicht überrumpeln. Ihre Bekämpfung wurde in diesen Gegenden ein ernstes Problem. Die beliebteste Methode war, sie zu köpfen und so ihres Giftstachels zu berauben. Im Dschungel führten die Eingeborenen lange leichte Stangen mit sich, die an der Spitze mit einer krummen Klinge versehen waren. Eine wirksame Waffe, wenn man sie rechtzeitig gebrauchte, aber ganz unwirksam, wenn die Triffid einem zuvorkam, ausschwingen und die Distanz unerwartet um vier oder fünf Fuß verringern konnte.