Das Trommeln hielt er nach wie vor für ein Verständigungsmittel. Ein Ergebnis, das veröffentlicht wurde, war der Nachweis, daß nach Entfernung der trommelnden Stiele eine Triffid allmählich einging.
Eine andere Feststellung war, daß Triffidsamen zu fünfundneunzig Prozent unfruchtbar waren.
»Was ein wahrer Segen ist«, bemerkte er, »sonst gäbe es nur noch Triffids auf diesem Planeten.«
Auch dem mußte ich zustimmen. Reife Triffids waren etwas Sehenswertes. Prall angeschwollen, glänzte knapp unterhalb des Kelches der dunkelgrüne Fruchtknollen, um die Hälfte größer als ein großer Apfel. Er barst mit einem zwanzig Meter weit hörbaren Knall. Die weißen Samenschwaden wölkten wie Dampf in die Luft und wurden von der schwächsten Brise verweht. Ein Triffidfeld konnte Ende August den Eindruck machen, als sei da ein leichtes Bombardement im Gang.
Walter wies auch nach, daß die Qualität der Extrakte sich verbesserte, wenn die Pflanzen ihre Stacheln behielten. Sie blieben daher auf den Feldern der Firma unbeschnitten, und wir mußten bei unserer Arbeit eine Schutzkleidung tragen. Ich war, als ich den Unfall erlitt, der mich ins Spital brachte, mit Walter beisammen. Wir untersuchten an einigen Exemplaren auffällige Abweichungen, wobei wir die vorgeschriebenen engmaschigen Drahtmasken trugen. Ich sah nicht genau, was geschah. Soviel ich weiß, beugte ich mich vor, als ein bösartig gegen mein Gesicht peitschender Stachel an das Drahtgitter der Maske schlug. Neunundneunzigmal von hundert wäre nichts geschehen; dafür waren ja die Masken da.
Diesmal zerplatzten infolge der Gewalt des Schlages einige der kleinen Giftsäckchen und ein paar Tropfen spritzten mir in die Augen.
Im Nu hatte mich Walter in sein Labor zurückge-bracht und das Gegenmittel angewendet. Nur seiner schnellen Hilfe war es zu danken, daß überhaupt Aussicht bestand, mir das Augenlicht zu retten.
Ich war für Triffidgift ziemlich immun geworden, seit ich den ersten Stich im Garten bekommen hatte.
Ich hatte ohne besondere Schädigungen Stiche überlebt, die einem weniger Abgehärteten wohl das Leben gekostet hätten. Aber das alte Sprichwort vom Krug und vom Brunnen kam mir nicht aus dem Sinn. Ich war gewarnt.
In der City
Ich ließ die Gasthaustür offen und wanderte bis zur nächsten Straßenkreuzung. Dort machte ich halt.
Was tun? Ich fühlte mich verlassen und verloren.
Kein Verkehr weit und breit, auch keine Verkehrs-geräusche. Nichts Lebendiges zu sehen als hie und da eine vereinzelte Gestalt, die behutsam tastend an der Häuserfront entlangschlich.
Es war ein herrlicher Frühsommertag. Alles war blank und klar, bis auf eine dunkle Rauchsäule, die im Norden über den Dächern stand. Einige Minuten hielt ich unentschlossen. Dann wandte ich mich ostwärts, nach London ...
Ich weiß heute noch nicht, warum. Vielleicht lockte mich die vertraute Umgebung, vielleicht erwartete ich, in dieser Richtung wenn irgendwo, Autorität und Führung zu finden.
Der genossene Branntwein hatte mich hungrig gemacht, ich mußte etwas essen. Ein schwieriges Problem. Es gab zwar Läden genug, herrenlos und unbewacht, und Lebensmittel in den Schaufenstern, und ich war hungrig und hatte Geld, oder konnte, wenn ich nicht zahlen wollte, eine Scheibe einschlagen und nehmen, was ich brauchte.
Dazu aber konnte ich mich nicht entschließen.
Nachdem ich etwa eine Meile zurückgelegt hatte, löste sich das Problem von selber. Ein Taxi war auf den Gehsteig geraten und mit dem Kühler in einen Delikatessenladen. Ich kletterte an dem Fahrzeug vorbei in den Laden und holte mir alles, was zu einer guten Mahlzeit gehörte. Noch immer hatte ich meine gute Erziehung nicht vergessen und ließ gewissenhaft eine angemessene Summe als Kaufpreis auf dem Ladentisch zurück.
Auf der anderen Straßenseite war ein kleiner Park, und ich hielt auf einer der Bänke meine Mahlzeit.
Kein anderer Besucher störte meine Abgeschieden-heit.
Nach beendeter Mahlzeit zündete ich eine Zigarette an. Als ich so dasaß und rauchte und dabei überlegte, wohin ich gehen und was ich unternehmen solle, erklang in der Stille Klavierspiel. Es kam aus einem der Wohnhäuser um den Park. Und auf einmal begann eine Mädchenstimme zu singen.
Ich horchte und blickte auf. Der Gesang verstummte. Das Klavierspiel brach ab. Und dann wurde ein Schluchzen hörbar: leise, hilflos und hoffnungslos, herzbrechend. Still ging ich zurück in die Straße und sah sie eine Weile wie durch einen Flor.
Sogar Hyde Park Corner fand ich beinahe verlassen.
Ein paar herrenlose Autos und Lastwagen standen auf der Fahrbahn. Die einzigen Lebewesen, die man zu sehen bekam, waren wenige Männer und noch weniger Frauen, die sorgsam ihren Weg suchten, mit Händen und Füßen tastend, wo es Geländer gab, mit schützend vorgestreckten Armen umherirrend, wenn es fehlte. Ich wandte mich, noch immer vom alten Zentrum magnetisch angezogen, der Piccadilly zu.
Es waren nun mehr Leute zu sehen, und ich marschierte an Gruppen stillstehender Fahrzeuge vorbei, mitten auf der Straße, wo ich die Entgegenkommen-den weniger störte; denn die blieben, sobald sie einen nahen Schritt hörten, stehen, auf einen Zusammenstoß gefaßt.
Piccadilly Circus war die belebteste Stelle, die ich bisher gesehen hatte. Vergleichsweise herrschte hier ein förmliches Gedränge, mochten es auch im ganzen keine hundert Leute sein. Sie wanderten ruhelos hin und her.
Plötzlich war der taktmäßige Schritt einer mar-schierenden Gruppe zu hören.
Von meinem Standplatz aus konnte ich sie aus einer Seitengasse in die Shaftesbury Avenue einbiegen und auf uns zukommen sehen. Sie kamen im Gänsemarsch. Der zweite in der Reihe hatte seine Hände auf den Schultern des Anführers, der dritte auf denen des zweiten, und so ging es weiter; es mochten fünfundzwanzig bis dreißig Mann sein.
Sie marschierten bis in die Mitte des Platzes. Hier erhob der Anführer seine Stimme:
»Kompanie-ie-ie, halt!«
Alles auf dem Platz war regungslos, alle Gesichter gespannt und erwartungsvoll ihm zugewendet. Wieder erhob er die Stimme und verkündete in der Art eines routinierten Fremdenführers:
»Hier, meine Herrschaften, sind wir auf dem Piccabloodydilly Circus. Bekanntlich der Mittelpunkt der Welt, Achse des Universums. Wo die oberen Zehntausend ihren Spaß hatten. Mit Wein, Weib und Gesang.«
Er war nicht blind. Anscheinend hatte ihm, ähnlich wie mir, ein Zufall das Augenlicht erhalten. Er war angetrunken; ebenso die Männer hinter ihm.
»Und jetzt werden auch wir unseren Spaß haben«, fügte er hinzu. »Nächste Station: das bekannte Café Royal – alles gratis natürlich.«
»Bravo – aber wo bleiben die Weiber?« fragte eine Stimme.
Gelächter folgte.
»Weiber willst du?«
Der Anführer tat einen Schritt vor und packte ein Mädchen beim Arm. Ohne sich um ihr Schreien zu kümmern, schleppte er sie zu dem Mann.
»Da hast eine. Ein Täubchen, Mann, was Extrafeines, ein wahres Zuckerpüppchen, das ich dir da zukommen lasse.«
Ich habe nachher eingesehen, daß ich mich sehr unklug benahm. Ich bedachte nicht, daß ein Bandenmitglied mehr Aussicht hatte, am Leben zu bleiben, als ein Einzelgänger. Angefeuert von Schuljungenromantik und ritterlichen Gefühlen, trat ich herzu. Er sah mich erst, als ich schon in nächster Nähe war und zu einem Kinnhaken ausholte. Leider war er der Schnellere ...
Als ich mich wieder für die Außenwelt interessierte, entdeckte ich, daß ich auf dem Straßenpflaster lag.
In der Ferne verhallte der Lärm der Bande.
Die Schar war, wie mir einfiel, ins Café Royal marschiert; ich beschloß daher, zur Regeneration meiner Lebensgeister und zur gründlichen Erwägung meiner Lage das Regent Palace Hotel aufzusuchen.