Nur der Adler, der unter allen Lebewesen die besten Augen hat, bemerkte auf einmal das Gesicht von Rischda Tarkhan. Der Adler sah, daß Rischda genauso überrascht und erschreckt war wie jeder andere. »Da hat einer Götter gerufen«, dachte Weitsicht, »an die er nicht glaubt. Wie wird es ihm ergehen, wenn sie wirklich da sind?«
Aber an diesem Abend gab es doch auch etwas Schönes. Alle sprechenden Hunde (es waren zusammen fünfzehn) kamen springend und bellend freudig an des Königs Seite, große, starke Hunde mit vollen Schultern und schweren Kinnbacken. Ihr Kommen war wie das Brechen einer großen Welle am Meeresstrand: Es warf einen fast um. Denn obgleich sprechende Hunde, waren sie doch gewöhnlichen Hunden so ähnlich wie nur möglich. Sie standen alle auf und legten ihre Vorderpfoten auf die Schultern der Menschen, leckten ihre Gesichter und riefen im Chor Tirian zu:
»Willkommen, willkommen! Wir helfen, helfen, helfen. Zeig uns, wie – zeig uns, wo! Wau – wau –wau – wo – wo?«
Das war so rührend, daß man fast weinen konnte. Auf die Hilfe der Hunde hatten die Narnianen doch gehofft. Einen Augenblick später kamen mehrere kleine Tiere (Mäuse und Maulwürfe und ein Eichhörnchen) angetrabt. Sie quiekten vor Freude und sagten: »Schau doch, schau; wir sind hier!«
Wenn jetzt auch Bär und Eber kommen, dachte Eugen, kann vielleicht doch noch alles gut werden. Aber Tirian blickte um sich und sah, daß sich nur wenige andere Tiere gerührt hatten.
»Zu mir, zu mir!« rief er, »seid ihr denn alle Feiglinge geworden?«
»Wir trauen uns nicht«, wimmerten Dutzende von Stimmen. »Taschlan könnte böse sein. Schütze uns vor Taschlan!«
»Wo sind denn die sprechenden Pferde?« fragte Tirian den Eber.
»Wir haben sie gesehen, wir haben sie gesehen«, quiekten die Mäuse. »Der Affe läßt sie schuften. Sie sind alle angeschirrt, unten am Fuß des Hügels.«
»Dann also, ihr Kleinen«, sagte Tirian, »ihr Knabberer und Nager und Nußknacker, fort mit euch, so schnell ihr nur könnt, und schaut, ob die Pferde auf unserer Seite sind. Setzt eure Zähne an die Stricke und nagt sie durch, bis die Pferde frei sind und herkommen können.«
»Wie du befiehlst, Majestät«, ertönten die kleinen Stimmen, und mit wedelnden Schwänzen eilte das scharfäugige und scharfzahnige Volk hinweg. Tirian lächelte gerührt, als er sie so laufen sah. Doch es war Zeit, an andere Dinge zu denken, denn Rischda Tarkhan gab seine Befehle.
»Vorwärts!« rief er. »Nehmt alle gefangen, wenn ihr könnt, und werft sie in den Stall oder treibt sie hinein. Wenn sie alle drin sind, werden wir Feuer legen und mit ihnen unserm großen Gott Tasch ein Opfer bringen.«
»Ha«, sagte Weitsicht zu sich selbst, »so erhofft er von Tasch Vergebung für seinen Unglauben.«
Die feindliche Linie – etwa die Hälfte von Rischdas Macht – bewegte sich jetzt vorwärts, und Tirian hatte kaum Zeit, seine Befehle zu erteilen.
»Hinaus an die Linke, Jutta, und versuch, so viele zu erschießen wie du kannst, ehe sie uns erreichen! Eber und Bär neben Jutta! Pogge an meine linke Seite, Eugen an meine rechte! Halt den rechten Flügel, Kleinod! Steh ihm bei, Grauohr, und gebrauch deine Hufe! Flieg und schlag zu, Weitsicht! Ihr Hunde, genau hinter uns! Geht mitten unter sie, nachdem das Spiel der Schwerter begonnen hat! Aslan hilf uns!«
Eugen stand da, und sein Herz schlug gewaltig. Er hoffte, daß er tapfer sein würde. Obwohl er schon einen Drachen und eine Seeschlange gesehen hatte, erschauerte er doch vor der Menge dunkelgesichtiger, helläugiger Menschen. Da waren fünfzehn Kalormenen, ein sprechender Stier aus Narnia, Schleichfuß der Fuchs und Bolk der Waldgeist, halb Ziegenbock, halb Mensch. Dann hörte er Schwirren und Zupfen zu seiner Linken, und ein Kalormene fiel; dann wieder Schwirren und Zupfen, und der Waldgeist sank nieder. »Gut gemacht, meine Tochter!« ertönte Tirians Stimme, und dann stand der Feind vor ihnen.
Eugen konnte sich nicht mehr erinnern, was in den nächsten Minuten geschah. Es war alles wie im Traum, bis er Rischda Tarkhans Stimme aus der Ferne rufen hörte: »Zieht euch zurück. Hierher zurück, und stellt euch neu wieder auf!«
Dann kam Eugen zur Besinnung und sah, daß die Kalormenen zu ihren Freunden zurückjagten. Aber nicht alle: zwei lagen tot da, einer von Kleinods Horn durchbohrt, der andere von Tirians Schwert. Der Fuchs lag tot zu Eugens Füßen, und er fragte sich, ob er ihn wirklich getötet hatte. Auch der Stier lag tot am Boden, mit einem Pfeil Juttas durch die Augen geschossen und seitlich aufgeschlitzt vom Stoßzahn des Ebers. Aber auch die andere Seite hatte ihre Verluste. Drei Hunde waren getötet worden, und ein vierter humpelte auf drei Füßen hinter die Kampflinie und wimmerte. Der Bär war niedergesunken und bewegte sich nur noch schwach. Er murmelte mit heiserer Stimme, ganz verwirrt: »Ich … ich … ich verstehe nichts«, legte seinen Kopf ins Gras, so ruhig wie ein Kind, das schlafen geht, und rührte sich nicht mehr.
Der erste Angriff war abgeschlagen. Eugen konnte sich kaum darüber freuen: er war sehr durstig, und sein Arm tat ihm weh.
Als die besiegten Kalormenen zu ihrem Befehlshaber zurückliefen, begannen die Zwerge sie zu verhöhnen. »Habt ihr genug, ihr Schwarzgesichter?« riefen sie. »Gefällt es euch nicht? Warum geht nicht euer großer Tarkhan mit und kämpft selbst, anstatt euch in den Tod zu schicken? Arme Schwarzgesichter!«
»Zwerge!« rief Tirian, »kommt her und gebraucht eure Schwerter, nicht eure Zungen. Es ist noch Zeit. Zwerge von Narnia! Ihr könnt gut fechten, ich weiß es. Kehrt zu eurer Pflicht zurück!«
»Ha!« sagten die Zwerge höhnisch lachend. »Denkst du. Ihr seid ebenso große Schwindler wie alle anderen. Wir brauchen keine Könige. Die Zwerge sind für die Zwerge da. Buh!«
Dann begann das Trommeln: diesmal keine Trommel der Zwerge, sondern eine große kalormenische Trommel aus Stierhaut. Die Kinder haßten den Klang vom ersten Augenblick an. Aber dieses Bumm-bumm-ba-ba-bumm wäre ihnen noch verhaßter gewesen, wenn sie gewußt hätten, was es bedeutete. Tirian wußte es. Es hieß, irgendwo in der Nähe gab es noch andere Truppen der Kalormenen, und Rischda Tarkhan rief sie zu Hilfe. Tirian und Kleinod blickten einander traurig an. Sie hatten gehofft, in dieser Nacht zu siegen. Wenn aber neue Feinde erschienen, war für sie alles verloren. Tirian blickte hoffnungslos umher. Mehrere Narnianen standen zusammen mit Kalormenen, sei es aus Verrat, sei es aus ehrlicher Furcht vor Taschlan. Andere saßen still da und überlegten, wem sie sich anschließen sollten. Jetzt waren auch weniger Tiere da, einige hatten sich während des Kampfes heimlich davongeschlichen.
Bumm-bumm-ba-ba-bumm erklang von neuem die schreckliche Trommel. Dann mischte sich ein anderer Ton hinein.
»Hört!« rief Kleinod, und Weitsicht sagte: »Seht nur!«
Einen Augenblick später gab es keinen Zweifel mehr. Mit donnernden Hufen, emporgeworfenen Köpfen, geweiteten Nüstern und wehenden Mähnen stürmten über zwanzig sprechende Pferde von Narnia den Hügel herauf. Die Nager und Knabberer hatten ganze Arbeit geleistet.
Pogge der Zwerg und die Kinder öffneten ihren Mund zum Freudenruf, aber der Ton erstickte in ihrer Kehle. Plötzlich war die Luft voll vom Klang schwirrender Bogensehnen und zischender Pfeile. Die Zwerge schossen, und Jutta traute kaum ihren Augen – sie schossen auf die Pferde. Zwerge sind todsichere Bogenschützen: Pferd um Pferd überschlug sich. Keines dieser edlen Tiere erreichte den König.
»Ihr Schweinehunde!« schrie Eugen und stampfte vor Wut mit den Füßen. »Schmutzige, schwindlerische kleine Scheusale!«
Sogar Kleinod sagte: »Soll ich die Zwerge überrennen, Majestät, und bei jedem Stoß zehn von diesen Schurken auf mein Horn spießen?«
Aber Tirian, mit einem Gesicht hart wie Stein, sagte: »Rühr dich nicht von der Stelle, Kleinod. Und wenn du weinen mußt, Herzchen (das galt Jutta), so dreh dein Gesicht zur Seite und schau, daß du deine Bogensehne nicht naß machst. Sei ruhig, Eugen, schimpf nicht wie ein Küchenmädchen. Kein Krieger schimpft. Höfliche Worte oder harte Schläge sind seine Sprache.«