Alle Kalormenen schlugen darauf die Schwerter an ihre Schilde und riefen: »Tasch! Tasch! Großer Gott Tasch! Unerbittlicher Tasch!«
Die kleine Gesellschaft an dem weißen Felsen beobachtete das lebhafte Treiben und flüsterte miteinander. Sie hatten am Felsen herabrieselndes Wasser entdeckt. Alle tranken eifrig – Jutta, Pogge und der König aus den Händen, während die Vierfüßler aus dem kleinen Teich schlürften, der sich am Fuß des Felsens gebildet hatte. So groß war ihr Durst, daß es ihnen wie der köstlichste Trunk erschien, den sie je in ihrem Leben bekommen hatten. Während sie tranken, fühlten sie sich überglücklich und konnten an nichts anderes mehr denken.
»Ich fühl’s in meinen Knochen«, sagte Pogge, »daß wir alle einer nach dem andern noch vor morgen durch das finstere Loch gehen müssen. Ich kann mir hundert Tode vorstellen, die ich lieber sterben würde.«
»Wirklich ein finsteres Loch«, sagte Tirian, »schlimmer als ein gefräßiges Maul.«
»Können wir unser Geschick denn gar nicht abwenden?« fragte Jutta erschüttert.
»Nein, teure Freundin«, sagte Kleinod und streichelte sie zärtlich. »Es ist für uns die Pforte zu Aslans Land, und wir werden noch heute nacht an seinem Tische speisen.«
Rischda Tarkhan wandte dem Stall seinen Rücken zu und schritt langsam zum Platz vor dem weißen Felsen. »Herhören«, rief er laut. »Wenn der Eber, die Hunde und das Einhorn zu mir überlaufen wollen und sich meiner Gnade unterwerfen, werden sie ihr Leben behalten. Der Eber soll in einen Käfig in Tisroks Garten kommen, die Hunde in Tisroks Zwinger, und das Einhorn muß einen Karren ziehen. Aber der Adler, die Kinder und der König werden noch in dieser Nacht Tasch geopfert.«
Die einzige Antwort darauf war ein gewaltiges Brummen.
»Vorwärts, ihr Krieger«, rief der Tarkhan, »tötet die Tiere, aber nehmt die Menschen lebendig gefangen!«
Dann begann die letzte Schlacht des letzten Königs von Narnia. Nicht nur die große Zahl der Feinde, sondern auch deren Speere machte sie hoffnungslos. Die Kalormenen, die fast von Anfang an bei dem Affen gewesen waren, hatten keine Speere. Sie waren einzeln und in kleinen Gruppen nach Narnia gekommen und hatten friedfertige Händler vorgetäuscht. Natürlich hatten sie keine Speere mitgebracht, denn einen Speer kann man nicht verbergen. Die neuen Männer mußten später ins Land gekommen sein, nachdem der Affe schon stark war und sie öffentlich marschieren konnten. Mit einem langen Speer kann man einen Eber töten, bevor man in Reichweite seiner Stoßzähne ist; auch ein Einhorn, bevor man in Reichweite seines Hornes kommt, das heißt, wenn man sehr schnell ist und seinen Kopf behält. Nun schlossen die erhobenen Speere Tirian und seine letzten Freunde ein. In den nächsten Minuten kämpften sie alle um ihr Leben.
Sie wurden sich ihrer Lage nicht recht bewußt. Wenn man jeden Muskel gebraucht – hier sich unter einer Schwertspitze bücken, dort über sie springen, sich zurückziehen, sich umdrehen muß – hat man keine Zeit, erschreckt oder traurig zu sein. Tirian wußte, er konnte jetzt nichts für die anderen tun, sie waren alle zusammen zum Tode verurteilt. Undeutlich sah er den Eber auf der einen Seite niederfallen und auf der anderen Kleinod wild kämpfen. Aus dem Winkel seines Auges bemerkte er einen riesigen Kalormenen, der Jutta an ihren Haaren irgendwohin zog. Aber er hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Er konnte nur noch sein Leben so teuer verkaufen wie möglich. Ein Mann, der mit einem Dutzend Feinde gleichzeitig zu kämpfen hat, muß seine Vorteile nutzen, wo immer er kann; wo immer er Brust oder Hals seines Feindes ungeschützt vorfindet, muß er darüber herfallen. Tirian wurde im Kampf immer weiter nach rechts gedrängt, wo er nicht mehr den Schutz des weißen Felsens im Rücken hatte. Er kam dem Stall immer näher und ahnte dunkel, daß es besser war, sich – so gut es ging – davon fernzuhalten.
Auf einmal merkte Tirian, daß er gegen den Tarkhan kämpfte. Das Feuer, zuerst links, lag nun unmittelbar vor ihm. Er kämpfte genau im Eingang des Stalles, denn die Tür war geöffnet worden. Zwei Kalormenen hielten die Tür, bereit, sie jeden Augenblick hinter ihm zuzuschlagen. Als Tirian merkte, daß ihn der Feind zum Stall gedrängt hatte, kämpfte er gegen den Tarkhan mit letzter Kraft.
Plötzlich kam Tirian ein neuer Gedanke. Schnell ließ er sein Schwert fallen, stürzte vor, schlüpfte unter Tarkhans Krummsäbel durch, ergriff mit beiden Händen den Feind am Gürtel, sprang mit ihm zum Stall zurück und rief: »Komm nur herein und begegne deinem Tasch selbst!«
Auf diese Worte folgte ein ohrenbetäubender Lärm. Genau wie beim Hineinschleudern des Affen bebte die Erde, und blendendes Licht erschien. Die kalormenischen Soldaten draußen schrien »Tasch, Tasch!« und knallten die Tür zu. Wenn Tasch ihren eigenen Hauptmann wollte, dann mußte er ihn auch bekommen. Sie selber wollten mit Tasch nicht zusammentreffen.
Eine oder zwei Minuten lang wußte Tirian nicht, wo noch wer er war. Dann wurde er seiner sicher, blinzelte und sah sich um. Es war nicht dunkel im Stall, wie er erwartet hatte, sondern ein grelles Licht blendete ihn.
Tirian wandte sich nach Rischda Tarkhan um, aber der sah ihn nicht. Rischda erhob ein großes Wehgeschrei und zeigte auf etwas; dann bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und fiel flach mit dem Gesicht auf den Boden. Doch als Tirian in die Richtung sah, in die der Tarkhan gezeigt hatte, verstand er alles.
Eine schreckliche Gestalt kam auf sie zu. Sie war viel kleiner als die, die sie vom Turm aus gesehen hatten, aber trotzdem viel stärker als ein Mensch, und es war doch dieselbe Gestalt. Sie hatte einen Geierkopf und vier Arme. Der Schnabel stand offen, und die Augen loderten. Eine krächzende Stimme kam aus dem Schnabel.
»Du hast mich nach Narnia gerufen, Rischda Tarkhan. Hier bin ich. Was hast du mir zu sagen?«
Aber der Tarkhan erhob weder sein Haupt vom Boden, noch sprach er ein einziges Wort. Er zuckte wie ein Mensch mit einem großen Schluckauf. Im Kampf war er mutig genug. Aber die Hälfte seines Mutes hatte ihn in dieser Nacht schon verlassen, als er ahnte, es könnte wirklich einen Tasch geben. Der Rest seines Mutes war ihm jetzt vergangen.
Mit einem plötzlichen Ruck – wie eine Henne, die sich bückt, um einen Wurm aufzupicken – fiel Tasch über den jämmerlichen Rischda her und steckte ihn unter die Achseln seiner zwei rechten Arme. Dann drehte Tasch seinen Kopf seitwärts und sah Tirian mit einem seiner schrecklichen Augen an.
Aber sofort ertönte hinter Tasch eine mächtige Stimme, ruhig wie die sommerliche See: »Hinweg mit dir, du Ungeheuer, und nimm dein rechtmäßiges Opfer mit, im Namen von Aslan und Aslans großem Vater, dem Herrscher über alle Meere!«
Das gräßliche Geschöpf verschwand mit dem Tarkhan unter seinen Armen. Tirian wandte sich, um zu sehen, wer gesprochen hatte. Was er da sah, ließ sein Herz schneller schlagen, als es jemals in einem Kampf geschlagen hatte.
Sieben Könige und Königinnen standen vor ihm, alle mit Kronen auf ihren Häuptern und in schimmernde Gewänder gehüllt. Aber die Könige trugen trotzdem vortreffliche Panzer und hielten gezogene Schwerter in den Händen. Tirian verbeugte sich höflich und wollte sprechen, als die jüngste der Königinnen lachte. Er sah ihr genau ins Antlitz und schnaufte dann vor Erstaunen, denn er erkannte Jutta, aber nicht die Jutta, die er zuletzt gesehen hatte, mit einem Gesicht voller Schmutz und Tränen und einem alten Kleid, das ihr halb von den Schultern fiel. Jetzt sah sie frisch und erholt aus, als wäre sie soeben dem Bad entstiegen. Zuerst meinte er, sie sähe älter aus, aber dann doch nicht; er konnte sich darüber nicht klar werden. Dann bemerkte er, daß der jüngste König Eugen war, ebenso verwandelt wie Jutta. Tirian fühlte sich plötzlich unbehaglich, weil er vor den Königen und Königinnen stand und noch Blut, Staub und Schweiß einer Schlacht an ihm klebten. Doch schon im nächsten Augenblick befand er sich in einem ganz anderen Zustand. Er war frisch, abgekühlt und sauber und in ein Gewand gehüllt, das er immer bei großen Festen in Otterfluh trug.