Tirian trat vom Loch in der Tür zurück und blickte sich um. Er traute kaum seinen Augen, denn über ihm war blauer Himmel und rundherum grünes Land, das sich, so weit er sehen konnte, nach allen Richtungen ausbreitete. Seine neuen Freunde standen lachend um ihn herum. »Es scheint also«, sagte Tirian wie zu sich selbst, »daß der Stall von innen und der Stall von außen gesehen etwas ganz Verschiedenes ist.«
»Ja«, bestätigte ihm Lord Digor, »sein Inneres ist größer als sein Äußeres.«
»Ja«, ergänzte Königin Luzie, »in unserer Welt barg auch einmal ein Stall etwas in sich, das größer war als unsere ganze Welt.« Zum ersten Mal hatte sie gesprochen, und aus dem Beben ihrer Stimme wußte Tirian jetzt auch, warum. Sie nahm alles tiefer auf als die andern. Sie hatte sich schweigend glücklich gefühlt.
Tirian wollte sie gern wieder hören, und deshalb sagte er: »Mit Verlaub, Madam, sprecht weiter. Erzählt mir eure Erlebnisse.«
»Nach allem Schreck und Lärm«, sagte Luzie, »fanden wir uns an dieser Stelle. Wir staunten über die Tür genauso wie du. Dann öffnete sich die Tür zum ersten Mal, und wir blickten in undurchdringliches Dunkel. Da kam ein großer Mann mit bloßem Schwert hindurch. Wir sahen an seinen Waffen: ein Kalormene. Er blieb neben der Tür stehen, mit erhobenem Schwert auf der Schulter, bereit jeden umzubringen, der durch die Tür kam. Wir gingen zu ihm und sprachen auf ihn ein, aber er konnte uns weder sehen noch hören. Er blickte auch nicht zum Himmel und zur Sonne auf oder hinunter ins Gras; ich glaube, er konnte nichts davon sehen. So warteten wir lange. Dann hörten wir, daß der Riegel auf der anderen Seite der Tür weggezogen wurde. Aber der Mann kam nicht dazu, mit seinem Schwert zuzuschlagen. Wir vermuteten nämlich, ihm sei befohlen worden, einige, die den Stall betreten wollten, zu erschlagen, andere aber zu schonen. Doch im gleichen Augenblick, als sich die Tür öffnete, stand plötzlich auf dieser Seite der Tür Tasch da. Keiner von uns wußte, woher er kam. Durch die Tür tänzelte ein großer Kater. Er warf einen Blick auf Tasch und rannte um sein Leben, gerade noch rechtzeitig, denn Tasch stürzte auf ihn los. Der Mann konnte Tasch sehen. Er wurde sehr bleich und verbeugte sich vor dem Ungeheuer, aber es verschwand. Dann warteten wir wieder. Die Tür öffnete sich zum dritten Mal, und es kam ein junger Kalormene herein. Er gefiel mir auf den ersten Blick. Die Wache an der Tür nahm Haltung an und war ganz verwirrt, als sie ihn sah. Sie hatte wohl einen ganz anderen erwartet.«
»Ich sehe jetzt klar«, sagte Eugen (er hatte nämlich die schlechte Angewohnheit, andere im Gespräch zu unterbrechen). »Der Kater mußte zuerst hereingehen, und der Wachtposten hatte Befehl, ihm nichts zuleide zu tun. Dann sollte der Kater herauskommen und sagen, er hätte den entsetzlichen Tasch gesehen. Er mußte ganz erschreckt tun, um die anderen Tiere einzuschüchtern. (Er wußte nicht, daß der wirkliche Tasch im Stall war, und so kam Rotschopf tatsächlich entsetzt heraus.) Danach wollte Kniff dann jeden hineinschicken, den er loswerden wollte, und die Wache sollte ihn töten. Und …«
»Freund«, mahnte Tirian sanft, »du störst die hohe Dame in ihrer Erzählung.«
»Nun«, fuhr Luzie fort, »die Wache war überrascht. Das gab dem andern Mann Zeit, auf seiner Hut zu sein. Sie fochten einen Kampf aus. Er tötete die Wache und warf sie durch die Tür zurück. Dann kam er langsam dahin, wo wir jetzt sind. Wir versuchten mit ihm zu sprechen, aber er war wie im Zauberschlaf. Er wiederholte immerzu: ›Tasch, Tasch, wer ist Tasch? Ich gehe zu Tasch.‹ Da gaben wir es auf, und er ging wieder weg, irgendwohin, da hinüber. Ich mochte ihn. Und danach … hu!« Luzie zog ein Gesicht.
»Danach«, ergänzte Edmund, »warf irgend jemand einen Affen durch die Tür. Und Tasch stand wieder da. Meine Schwester ist so weichherzig, sie möchte es dir nicht erzählen, daß Tasch einmal zuschnappte und der Affe erledigt war.«
»Geschah ihm ganz recht«, sagte Eugen.
»Darauf«, erklärte Edmund, »kamen über ein Dutzend Zwerge, dann Jutta und Eugen und zuletzt du selbst.«
»Ich hoffe, Tasch fraß auch die Zwerge«, meinte Eugen. »Diese Schweinebande!«
»Nein, das tat er nicht«, versetzte Luzie. »Sei nicht eklig. Sie sind noch da. Du kannst sie von hier aus sehen. Ich habe versucht, mit ihnen Freundschaft zu schließen, aber es hat keinen Sinn.«
»Freundschaft mit ihnen?« rief Eugen. »Wenn du wüßtest, wie diese Zwerge sich benommen haben.«
»Hör auf, Eugen!« mahnte Luzie. »Komm und sieh sie dir an, König Tirian. Vielleicht könntest du etwas mit ihnen anfangen.«
»Für Zwerge habe ich nichts mehr übrig«, sagte Tirian. »Doch auf Euer Wort hin, hohe Frau, will ich alles versuchen.«
Luzie führte sie, und bald konnten sie die Zwerge sehen. Sie boten einen wunderlichen Anblick. Sie liefen nicht etwa umher (obgleich sie die Stricke, mit denen man sie gefesselt hatte, nicht mehr trugen). Sie unterhielten sich auch nicht, sie lagen auch nicht auf der Erde und ruhten sich aus. Sie saßen sehr dicht in einem Kreis zusammen und betrachteten einander. Sie sahen sich nie um oder schauten nach den Menschen, bis Luzie und Tirian nah genug waren und sie fast berührten. Dann richteten alle Zwerge ihre Köpfe auf, als ob sie keinen sehen könnten, aber sie horchten genau und versuchten, am Klang zu erraten, was geschah.
»Was fällt euch ein, uns auf die Füße zu treten«, schimpfte ein Zwerg. »Geht uns doch gefälligst aus dem Weg! Habt ihr keine Augen im Kopf?«
»Wir haben euch nichts getan«, sagte Eugen empört. »Wir sind nicht blind. Wir haben Augen im Kopf.«
»Ihr müßt schon verdammt gute Augen haben, wenn ihr hier sehen könnt«, sagte der Zwerg, der Knupp hieß.
»Wo?« fragte Edmund.
»Du Dummkopf! Hier natürlich«, murrte Knupp. »In diesem pechschwarzen, dumpfen, stinkenden kleinen Loch von einem Stall.«
»Bist du blind?« fragte Tirian.
»Sind wir nicht alle blind in der Dunkelheit?« versetzte Knupp.
»Aber es ist gar nicht dunkel hier, ihr armen dummen Zwerge«, sagte Luzie. »Könnt ihr nicht sehen? Seht hoch, schaut euch doch um! Könnt ihr nicht den Himmel sehen, die Bäume und die Blumen? Könnt ihr mich nicht sehen?«
»Wie, im Namen allen Unsinns, kann ich sehen, was nicht da ist? Weder kann ich dich sehen, noch kannst du mich sehen in dieser rabenschwarzen Finsternis.«
»Aber ich kann dich sehen«, sagte Luzie. »Ich werde beweisen, daß ich dich sehen kann. Du hast eine Pfeife im Mund.«
»Jeder, der Tabakgeruch kennt, kann das auch behaupten«, meinte Knupp.
»O die armen Kerle! Wie schrecklich!« klagte Luzie. Dann hatte sie einen Einfall. Sie bückte sich und pflückte ein paar wilde Veilchen. »Hör zu, Zwerg«, sagte sie. »Wenn deine Augen versagen, so ist vielleicht deine Nase in Ordnung. Kannst du das riechen?« Sie beugte sich herab und hielt die frischen, feuchten Blumen an Knupps häßliche Nase. Aber sie mußte schleunigst zurückspringen, um einem Schlag von seiner schweren kleinen Faust zu entgehen.
»Nichts davon!« schrie Knupp. »Wie kannst du es wagen! Was soll das heißen, daß du mir schmutzige Stallstreu ins Gesicht hältst? Es war auch eine Distel dabei. So eine Frechheit! Wer bist du überhaupt?«
»Erdmännchen«, sagte Tirian, »das ist die Königin Luzie, aus tiefer Vergangenheit heraus von Aslan hierher gesandt. Um ihretwillen allein schlage ich, König Tirian, euch nicht die Köpfe ab, erwiesene und zweimal geprüfte Verräter, die ihr seid.«
»Das ist die Höhe!« rief Knupp aus. »Wie kannst du uns nur solchen Quatsch vorsetzen. Dein wundervoller Löwe sollte doch kommen und dir helfen, nicht wahr? Ist er gekommen, hat er dir geholfen? Kein Gedanke. Jetzt, jetzt sogar, da du besiegt worden bist und, genau wie wir, in das schwarze Loch gesteckt wurdest, treibst du noch immer dein nichtswürdiges Spiel. Du willst uns mit einer neuen Lüge einfangen und uns einreden, daß wir nicht eingesperrt sind, daß es nicht dunkel ist und der Himmel wer weiß was.«