»Hier ist kein schwarzes Loch, außer in deiner Einbildung, du Narr!« schrie Tirian. »Komm doch heraus!« Er lehnte sich vor, griff Knupp am Gürte! und an der Kappe und zog ihn aus dem Kreis der Zwerge heraus. Aber als Tirian ihn absetzte, stürzte Knupp zu seinem Platz unter den andern zurück, rieb sich die Nase und heulte:
»O weh, o weh! Was hast du nur getan! Mein Gesicht gegen die Wand geknallt! Du hast mir fast die Nase gebrochen.«
»O du liebe Güte!« klagte Luzie. »Was sollen wir bloß mit ihnen machen?«
»Laßt sie doch in Ruhe«, sagte Eugen.
Als er noch sprach, erzitterte die Erde. Die milde Luft wurde plötzlich noch milder. Eine Helle leuchtete hinter ihnen auf. Alle wandten sich um, Tirian zuletzt, weil er Angst hatte. Da stand der Wunsch seines Herzens groß und wirklich vor ihm: der Goldene Löwe, Aslan selbst. Schon knieten die andern im Kreis um seine Vorderpfoten und vergruben ihre Hände und Gesichter in seine Mähne. Aslan aber beugte sein großes Haupt und streichelte sie mit seiner Zunge. Dann faßte er Tirian scharf ins Auge, und Tirian kam zitternd näher und warf sich dem Löwen zu Füßen. Der Löwe küßte ihn und sagte:
»Gut, du letzter König von Narnia, der standhielt in seiner dunkelsten Stunde.«
»Aslan«, bat Luzie unter Tränen, »könntest du … willst du … willst du etwas für die armen Zwerge tun?«
»Meine Lieben«, sagte Aslan, »ich werde euch zeigen, was ich tun kann und was nicht.« Er kam nah an die Zwerge heran und gab ein schwaches Brüllen von sich, ganz schwach nur, aber es erschütterte die Luft. Doch die Zwerge sagten zueinander: »Hört ihr das? Das ist die Sippschaft vom andern Ende des Stalles. Die wollen uns nur erschrecken. Das machen sie mit einer Maschine. Kümmert euch nicht darum. Sie können uns nicht wieder betrügen.«
Aslan hob den Kopf und schüttelte die Mähne. Sogleich lag auf den Knien der Zwerge ein herrliches Festmahclass="underline" Pasteten und allerlei Köstliches, Zungen, Tauben, Trüffeln und Eis. Jeder Zwerg hielt auch in seiner rechten Hand einen Becher mit gutem Wein.
Aber das alles hatte keinen Zweck. Die Zwerge aßen und tranken gierig, merkten aber nicht, was sie aßen. Sie meinten, man hätte ihnen das vorgesetzt, was man so in einem Stall findet. Ein Zwerg sagte, er versuche Heu zu essen, ein anderer, er hätte ein Stückchen von einer alten Rübe, ein dritter, er hätte ein rohes Kohlblatt im Mund. Sie setzten goldene Becher mit köstlichem roten Wein an die Lippen und riefen: ›Hu! Schmutziges Wasser aus einem Trog für den Esel. Soweit sind wir heruntergekommene Aber sehr bald glaubte ein Zwerg, ein anderer habe etwas Besseres gefunden als er selbst. Im Nu gab es Streit, Rauferei und offenen Kampf zwischen den Zwergen. Sie verschmierten das gute Essen auf ihren Gesichtern und Gewändern oder zertrampelten es unter ihren Füßen. Doch als sie sich endlich anschickten, ihre blau und grün geschlagenen Augen und blutenden Nasen zu pflegen, sagten alle:
»Na, auf jeden Fall gibt’s hier keinen Unfug wie anderswo. Wir haben uns von niemandem übers Ohr hauen lassen. Die Zwerge sind für die Zwerge da.«
»Seht ihr«, sagte Aslan, »sie wollen sich nicht helfen lassen. Sie haben Mißtrauen und Arglist dem Glauben vorgezogen. Ihre Gefangenschaft besteht nur in ihrer eigenen Einbildung, aber sie bleiben gefangen, weil sie so denken. Aber kommt, Kinder, ich habe noch anderes zu tun.«
Er ging zur Tür, und alle folgten ihm. Er hob seinen Kopf und brüllte: »Nun ist es Zeit.« Dann noch lauter: »Zeit!« Endlich so laut, daß sein Brüllen die Sterne erschütterte: »Zeit!«
Die Tür flog auf.
14. Nacht über Narnia
Sie standen alle rechts neben Aslan und blickten durch die offene Tür. Das Feuer draußen war erloschen. In Narnia herrschte völlige Finsternis. Daß sie in einen Wald hineinschauten, war daran zu erkennen, daß die Sterne die dunklen Umrisse der Bäume beleuchteten.
Als Aslan zum dritten Male ›Zeit‹ gebrüllt hatte, war draußen, jenseits der Tür, eine schwarze Gestalt erschienen. Das heißt, sie alle sahen nur einen dunklen Fleck, weil dort keine Sterne leuchteten. Der Fleck stieg höher und höher und nahm die Form eines Mannes an, des ungeheuersten aller Riesen. Sie kannten Narnia so gut, daß sie leicht den Platz errieten, wo er stehen mußte: auf den Hochmooren, eine Strecke weiter nach Norden, über dem Fluß Drub. Da erinnerten sich Jutta und Eugen, daß sie einmal, vor langen Zeiten, in den tiefen Höhlen unterhalb dieser Moore einen mächtigen Riesen schlafend gesehen hatten. Sie erfuhren damals, daß sein Name ›Vater Zeit‹ war. Man erzählte sich von ihm, daß er erst an dem Tag erwachen würde, wenn Narnia zu Ende ginge.
»Ja«, sagte Aslan, obwohl keiner auch nur ein Wort gesprochen hatte. »Als er noch in tiefen Träumen lag, hieß er Zeit. Nun ist er erwacht und bekommt einen neuen Namen.«
Dann hob der Riese ein Horn an den Mund. Sie konnten das an der veränderten schwarzen Gestalt sehen, die sich vor den hellen Sternen bewegte. Etwas später – weil der Klang so langsam wandert – hörten sie den Ton des Hornes, hoch und schrecklich und von einer seltsam tödlichen Schönheit.
Sogleich füllte sich der Himmel mit Sternschnuppen. Wie schön sieht schon eine einzige Sternschnuppe aus, hier aber waren es zuerst Dutzende und dann mehr und mehr, bis sie wie ein silberner Regen stürzten, und noch immer fielen weitere Sterne.
Nach einer Weile glaubten sie wiederum eine dunkle Gestalt am Himmel zu sehen. Sie stand an einer anderen Stelle, gerade über ihnen, oben auf dem höchsten Dach des Himmelszeltes, wie man so sagt.
Vielleicht nur eine Wolke, dachte Edmund. Auf jeden Fall waren dort keine Sterne zu sehen, nur Finsternis. Um diesen dunklen Fleck herum ging der Sternschnuppenfall weiter. Dann fing der sternlose Fleck an zu wachsen, vom Mittelpunkt des Himmels breitete er sich langsam weiter aus. Bald war ein Viertel des gesamten Himmels schwarz, dann die Hälfte, und zuletzt fiel der Sternschnuppenregen nur noch in der Nähe des Himmelsrandes.
Mit Erstaunen und auch etwas Schrecken wurde ihnen plötzlich klar, was da vor sich ging. Die sich ausbreitende Finsternis war durchaus keine Wolke, es war einfach Leere. Das schwarze Stück des Himmels war der Teil, an dem keine Sterne mehr standen. Alle Sterne fielen, Aslan hatte sie heimgerufen.
Die letzten wenigen Sekunden, bevor der Sternenschauer ganz aufhörte, waren aufregend genug. Überall um sie herum fielen Sterne. Aber die Sterne Narnias sind keine großen flammenden Kugeln wie in unserer Welt. Vielmehr sind es Menschen (Edmund und Luzie waren einmal einem solchen Wunderwesen begegnet). So sahen sie nun eine Menge glitzernder Menschen, alle mit langen Haaren wie brennendes Silber und mit Speeren wie weißglühendes Metall. Sie stürzten zu ihnen nieder aus dem schwarzen Himmel, schneller als fallende Steine. Als sie landeten, gab es ein zischendes Geräusch, und das Gras verbrannte. Alle diese Sterne glitten durch das Tor und an Aslan vorüber. Ein wenig rechts hinter ihm stellten sie sich dann auf.
Das war gewiß ein großer Vorteil. Denn da jetzt keine Sterne mehr am Himmel leuchteten, wäre ohne sie alles dunkel gewesen, und man hätte überhaupt nichts mehr gesehen. So aber warf die Menge der Sterne hinter Aslan ein grelles weißes Licht durch das Tor. Man konnte die Wälder und Flüsse von Narnia meilenweit ausgebreitet sehen, wie von Scheinwerfern beleuchtet. Die Büsche und fast jeder Grashalm hatten ihren schwarzen Schatten hinter sich. Die Kante eines jeden Blattes war so scharf gezeichnet, als könnte man sich daran in die Finger schneiden.
Auf dem Gras vor den Zuschauern lagen ihre eigenen Schatten; der größte gehörte Aslan. Sein Schatten breitete sich zu ihrer Linken aus, ungeheuer groß und schrecklich. Das alles geschah unter einem Himmel, der jetzt sternenlos war für immer.
Das Licht hinter Aslan (und auch ein wenig rechts von ihm) war so stark, daß es sogar die Hänge der nördlichen Moore beleuchtete. Dort bewegte sich nun etwas. Riesige Tiere krochen und glitten nieder nach Narnia: große Drachen, Rieseneidechsen, Vögel ohne Federn und mit Schwingen wie Fledermausflügel. Sie verschwanden in den Wäldern. Minutenlang war Schweigen. Bald aber kamen – zuerst von weit her – wehklagende Töne und dann, aus allen Richtungen, ein Rauschen und Klatschen wie von Flügeln. Immer näher kam der Lärm. Nun konnte man schon das Hetzen kleiner Füße von dem Dahintrotten großer Pfoten unterscheiden und das Klick-klack leichter kleiner Hufe vom Donner der größeren. Dann konnte man sehen, wie Tausende von Augenpaaren glänzten, und schließlich rasten – außerhalb des Baumschattens – Tausende und Millionen den Hügel hinauf. Alle Arten von Geschöpfen kamen: sprechende Tiere, Zwerge, Faune, Riesen, Kalormenen, Menschen aus dem Archenland, einfüßige und seltsam unirdische Wesen von weit entfernten Inseln oder aus den unbekannten westlichen Ländern. Sie alle rannten hinauf zur Tür, in der Aslan stand.