Dieses Erlebnis war für die Menschen eher ein Traum, an den sie sich später nur noch ungenau erinnerten. Keiner konnte mehr sagen, wie lange der Zug gedauert hatte. Manchmal schienen es nur wenige Minuten gewesen zu sein, dann aber auch wieder viele lange Jahre. War die Tür etwa höher und breiter geworden oder die Tiere plötzlich so klein wie Mücken? Wie hätte denn sonst eine solche Menge durch die Tür gehen können?
Alle Tiere eilten herbei. Ihre Augen wurden größer, je näher sie den leuchtenden Sternen kamen. Als sie dann vor Aslan standen, wurde jedem von ihnen zuteil, was ihm zukam. Sie alle sahen Aslan gerade ins Antlitz; doch sie hatten wohl auch keine andere Wahl, anderswohin zu schauen. Bei manchen Geschöpfen, die ihn anblickten, schwankte in den Gesichtern der Ausdruck von Furcht bis Haß. Bei sprechenden Tieren aber dauerte das Wechselspiel von Furcht und Haß nur den Bruchteil einer Sekunde. Man spürte es förmlich, wie sie im Nu aufhörten, sprechende Tiere zu sein. Sie wurden wieder gewöhnliche Tiere. Alle Geschöpfe, die Aslan in dieser Weise ansahen, schwenkten rechts ab (von Aslan aus gesehen nach links) und verschwanden in seinem riesigen schwarzen Schatten, der sich zur Linken der Türöffnung ausbreitete. Niemand hat sie je wieder gesehen, niemand weiß, was aus ihnen wurde.
Die anderen Geschöpfe aber blickten in Aslans Gesicht und liebten ihn, wenn auch einige zur gleichen Zeit immer noch Angst hatten. Sie kamen zur Tür herein und gingen zur Rechten Aslans. Unter ihnen gab es auch einige sonderbare Wesen. Eugen erkannte sogar einen Zwerg, der mitgeholfen hatte, die Pferde zu erschießen. Aber Eugen hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern (es ging ihn ja auch nichts an), denn er hatte eine große Freude. Unter den glücklichen Geschöpfen, die nun kamen und sich um Tirian und seine Freunde scharten, waren auch alle, die sie tot geglaubt hatten: Runwitt der Zentaur, Kleinod das Einhorn, der gute Eber und der gute Bär, Weitsicht der Adler, die lieben Hunde, die Pferde und Pogge der Zwerg.
»Nur immer weiter und höher hinauf!« rief Runwitt und lief im Galopp nach Westen. Obwohl sie ihn nicht verstanden, gingen ihnen seine Worte zu Herzen. Der Eber grunzte ihnen fröhlich zu. Der Bär wollte gerade murmeln, er verstehe nichts, als er die Obstbäume hinter sich erblickte. So schnell er nur konnte, trottete er zu diesen Bäumen, und dort fand er wohl etwas, das er gut verstand. Die Hunde aber blieben schwanzwedelnd stehen. Auch Pogge hielt an; er schüttelte jedem die Hände und strahlte über sein treuherziges Gesicht. Kleinod lehnte sein schneeweißes Haupt über des Königs Schulter, und der König flüsterte in Kleinods Ohr. Dann aber drehten sie sich um und schauten dem zu, was jenseits der Tür zu sehen war.
Die Drachen und Rieseneidechsen hatten nun Narnia ganz für sich. Sie gingen hin und her, rissen die Bäume mit den Wurzeln heraus und zermalmten sie, als ob es Rhabarberstengel wären. Von einer Minute zur andern verschwanden ganze Wälder. Das weite Land wurde kahl, und man konnte alle möglichen Dinge in ihrer ursprünglichen Gestalt sehen – alle kleinen Buckel und Mulden, die man vorher gar nicht bemerkt hatte. Das Gras verging. Bald merkte Tirian, daß er nur noch auf eine Welt von nackten Felsen und Erde sah. Man konnte es kaum glauben, daß in Narnia je irgend etwas gelebt hatte. Die Ungeheuer selbst wurden alt, legten sich dann nieder und starben. Ihr Fleisch schrumpfte ein, und die Knochen traten hervor. Bald waren sie nur noch riesengroße Gerippe, die da und dort auf den toten Felsen lagen und aussahen, als seien sie schon tausend Jahre früher gestorben. Lange Zeit war alles still.
Zuletzt bewegte sich dort draußen irgend etwas Weißes, eine lange blinkende Linie, die im Licht, das die Sterne hinter dem Tor ausstrahlten, glänzte. Sie lief vom östlichen Ende Narnias auf das Tor zu. Ein Geräusch brach das Schweigen, erst ein Murmeln, hierauf ein Dröhnen und dann ein Brüllen. Nun konnten sie alle sehen, was da kam. Es war ein schäumender Wasserschwall, es war das Meer, das da kam.
In der jetzt baumlosen Landschaft konnte man auch gut beobachten, wie alle Flüsse breiter wurden und die Seen größer, wie getrennte Seen zusammenflössen, Täler zu neuen Seen wurden, Hügel zu Inseln und wie diese Inseln wieder verschwanden. Die Hochmoore zu ihrer Linken und die höheren Berge zu ihrer Rechten zerbröckelten und gingen brüllend unter im steigenden Wasser. Das Wasser stieg quirlend herauf, bis zur Schwelle der Tür (strömte aber nicht hindurch), so daß der Schaum über Aslans Vorderpfoten spritzte. Überall war jetzt nur noch Wasser, vom Tor aus, wo sie standen, bis zum Horizont, wo das Wasser den Himmel traf.
Dort draußen vor dem Tor wurde es jetzt allmählich lichter. Ein Streifen öder, unheilvoller Dämmerung breitete sich vom Himmelsrand aus und wurde weiter und heller. Nun brach die Sonne durch. Da sahen Lord Digor und die Dame Marie einander an und nickten ein wenig. Sie hatten beide einmal in einer andern Welt eine sterbende Sonne gesehen. Sie wußten sogleich, daß auch diese Sonne hier sterben mußte. Sie war dreimal, nein zwanzigmal größer als sonst und dunkelrot. Als ihre Strahlen auf den großen Riesen Zeit fielen, wurde auch er rot, und in dem Widerschein der Sonne sah die ganze Weite des uferlosen Wassers wie Blut aus.
Dann kam der Mond hervor, aber an einer falschen, ungewohnten Stelle, sehr nah bei der Sonne, und auch er sah ganz rot aus. An seiner Seite begann die Sonne große Flammen wie Barte oder Schlangen aus grell-rotem Feuer auf ihn abzuschießen. Wie ein riesiger Tintenfisch versuchte die Sonne, den Mond in ihre Fühlarme zu ziehen. Vielleicht zog sie ihn auch, denn jedenfalls kam er zu ihr, erst langsam, dann immer schneller, bis zuletzt ihre langen Flammen ihn umleckten und die beiden zusammenflössen zu einem riesigen Feuerball. Große Feuerklumpen daraus fielen ins Meer, und Wolken von Dampf stiegen auf.
Dann sagte Aslan: »Nun macht ein Ende.«
Der Riese warf sein Horn ins Meer. Dann streckte er einen Arm, schwarzbehaart und tausend Meter lang, zum Himmel empor, bis seine Hand die Sonne erreichte. Er nahm die Sonne und drückte sie aus wie eine Zitrone oder Orange. Sofort herrschte völlige Finsternis.
Alle, Aslan ausgenommen, wichen vor der eiskalten Luft zurück, die jetzt durch die Tür blies. Der Türrahmen war im Nu mit Eiszapfen bedeckt.
»Peter, Prächtiger König von Narnia«, sagte Aslan, »schließ die Tür!«
Peter, der vor Kälte zitterte, lehnte sich in die Dunkelheit hinaus und zog die Tür zu, die vor Eis knirschte. Dann nahm er schwerfällig (denn schon in diesem kurzen Augenblick waren seine Hände steif und blau gefroren) einen goldenen Schlüssel heraus und verschloß die Tür.
Sie hatten durch die Tür seltsame Dinge gesehen. Doch war es nicht noch seltsamer, als sie sich nun umschauten und sich im warmen Tageslicht wiederfanden, den blauen Himmel über sich, Blumen zu Füßen und Lachen ins Aslans Augen?
Aslan wandte sich rasch um, duckte sich, schlug mit dem Schwanz einen Kreis und schoß davon wie ein goldener Pfeil.