Worin dieses sonnenbeschienene Land sich von dem alten Narnia unterschied, ist ebenso schwer zu erklären, als wenn man erläutern wollte, wie die Früchte dieses Landes schmecken. Vielleicht bekommt man eine Ahnung davon, wenn man so denkt:
Man stellt sich einen Raum vor mit nur einem Fenster. Durch das Fenster kann man auf eine liebliche Bucht am Meer hinaussehen oder auf ein grünes Tal zwischen Bergen. In der Wand dieses Raumes, dem Fenster genau gegenüber, hängt ein Spiegel. Wenn man sich vom Fenster abwendet, dann erblickt man plötzlich das Meer oder das Tal in diesem Spiegel. Das Meer oder das Tal im Spiegel zeigen jedoch das wirkliche Meer oder das wirkliche Tal vor dem Fenster mehr wie Orte in einer Geschichte. Die Wirklichkeit draußen vor dem Fenster ist aber viel tiefer und wunderbarer.
Der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Narnia war ebenso. Das neue Narnia war ein Land mit tieferem Sinn: jeder Felsen, jede Blume und jeder Grashalm sahen so aus, als ob sie noch mehr bedeuteten.
Man kann es nicht besser beschreiben als so. Kommt jemand dorthin, wird er wissen, was gemeint ist. Das Einhorn faßte zusammen, was jeder fühlte. Mit dem rechten Vorderfuß stampfte es den Boden, wieherte laut und rief dann:
»Nun bin ich doch noch nach Hause gekommen! Das ist meine wahre Heimat. Hier gehöre ich hin. Nach diesem Land habe ich mich mein ganzes Leben lang gesehnt. Aber das wußte ich bis jetzt nicht. Warum liebten wir das alte Narnia? Weil es manchmal ein bißchen wie dieses Land hier aussah. Brii – hü – hü! Kommt weiter, weiter hinein und weiter hinauf.«
Kleinod schüttelte seine Mähne und sprang in vollem Galopp vorwärts, in einem Einhorngalopp, der ihn in unserer Welt in wenigen Minuten aus dem Blickfeld aller getragen hätte. Aber nun kam etwas Spaßiges. Jeder begann zu rennen, und zu ihrem Erstaunen konnten sie Schritt halten mit Kleinod, nicht nur die Hunde und Menschen, sogar der kleine Grauohr und der kurzbeinige Zwerg Pogge. Die Luft blies ihnen ins Gesicht, als ob sie in einem schnellfahrenden Auto ohne Windschutzscheibe säßen. Das Land flog an ihnen vorüber, als ob sie es aus den Fenstern eines Schnellzuges sähen. Schneller, immer schneller rannten sie, aber keinem wurde heiß, keiner wurde müde, keiner kam außer Atem.
16. Abschied vom Schattenreich
Könnte man rennen, ohne müde zu werden, dann möchte man oft nichts anderes tun. Aber es können besondere Gründe sein, wenn man plötzlich im Rennen anhält. Jetzt war ein besonderer Grund da, der Eugen sofort ausrufen ließ: »Halt! Schaut mal, wohin wir rennen!«
Er hatte recht, denn nun sahen sie den Kesselteich vor sich und dahinter die hohen unbesteigbaren Berge. In jeder Sekunde flossen von den Felsen Tausende von Tonnen Wasser herab, das an manchen Stellen wie Diamanten glitzerte, an anderen dunkel und glasig grün war. Das war der Wasserfall. Schon klang sein Donnern in ihren Ohren.
»Nicht stehenbleiben! Weiter hinein und weiter hinauf!« rief Weitsicht und stieg im Flug ein wenig aufwärts.
»Für ihn ist das alles sehr schön«, sagte Eugen, aber auch Kleinod rief aus: »Bleibt nicht stehen! Weiter hinein und weiter hinauf! Ohne Rast und ohne Umweg!«
Seine Stimme war bei dem Getöse des Wassers gerade noch zu hören, im nächsten Augenblick aber sah man, daß Kleinod in den Teich getaucht war. Holterdiepolter, mit Spritzen und Plantschen folgten die anderen ihm nach ins Wasser. Das Wasser war nicht beißend kalt, wie alle (besonders Grauohr) erwartet hatten, sondern von einer herrlich schaumigen Kühle. Sie merkten alle, daß sie auf den Wasserfall zuschwammen.
»Das ist doch verrückt!« sagte Eugen zu Edmund.
»Ich weiß«, erwiderte Edmund.
»Ist es nicht wundervoll?« fragte Luzie. »Habt ihr bemerkt, hier kann man sich nicht fürchten, selbst wenn man es will. Versucht es doch.«
»Beim Himmel, keiner kann es«, sagte Eugen, nachdem er es versucht hatte.
Kleinod erreichte als erster den Fuß des Wasserfalls, aber Tirian war gleich hinter ihm. Jutta war die letzte und konnte so alles besser als die andern sehen. Sie sah etwas Weißes, das sich geradewegs auf der Oberfläche des Wasserfalls nach oben bewegte. Das weiße Ding war das Einhorn. Man konnte nicht sagen, ob Kleinod schwamm oder kletterte, aber er kam höher und immer höher. Die Spitze seines Horns teilte das Wasser genau über seinem Kopf, und die Flut fiel wellig in zwei regenbogenfarbigen Strömen über seine Schultern herab. Genau hinter ihm kam König Tirian. Er bewegte seine Arme und Beine wie beim Schwimmen, aber er stieg gerade aufwärts, als ob man eine Hauswand hinaufschwimmen könnte.
Am spaßigsten sahen die Hunde aus. Während des Galopps waren sie nicht außer Atem gekommen, aber nun, als sie nach oben kletterten, gab es ein großes Prusten und Niesen unter ihnen. Das kam daher, weil sie dauernd bellen wollten, und jedesmal, wenn sie bellten, bekamen sie ihre Mäuler und Nasen voll Wasser, das ihr Bellen erstickte.
Aber ehe Jutta noch Zeit hatte, das alles zu bemerken, stieg sie selbst den Wasserfall hinauf.
So etwas wäre in unserer Welt ganz unmöglich gewesen. Selbst dann, wenn man nicht ertrinken würde, wäre man in Stücke zerschmettert worden von der schrecklichen Wucht des Wassers. Aber in diesem neuen Narnia konnte man das tun. Man kam voran und hoch und höher. Am eigenen Leib brachen und spiegelten sich allerlei Lichter im Wasser. Deswegen und wegen der farbigen Steinchen, die durch das Wasser blitzten, schien es, als kletterte man am Licht selbst herauf, immer höher und höher, bis das Gefühl der Höhe einen erschreckte, wenn man überhaupt erschreckt werden konnte, denn hier fand man es nur herrlich aufregend. Zuletzt kam man zu der weichen grünen Biegung, über die das Wasser hinab in die Tiefe schoß. Dann war man oben auf dem großen Fluß über dem Wasserfall. Die Strömung jagte hinter einem fort in die Tiefe, aber hier in Narnia war man so stark, daß man gegen die Strömung anschwimmen konnte. Bald standen alle am Ufer des Flusses, triefend, aber glücklich.
Ein langes Tal öffnete sich vor ihnen, und große Schneeberge, nun viel näher, ragten vor ihnen gegen den Himmel auf.
»Weiter hinein und weiter hinauf!« rief Kleinod, und sofort machten sie sich wieder auf den Weg.
Jetzt waren sie aus Narnia heraus und oben in der Westlichen Wildnis, die weder Tirian noch Peter, noch der Adler je vorher gesehen hatten. Aber Lord Digor und die Dame Marie hatten sie gesehen.
»Erinnerst du dich? Erinnerst du dich?« fragten sie mit fester Stimme, ohne zu schnaufen, obwohl die ganze Gesellschaft noch schneller rannte, als ein Pfeil dahinfliegt.
»Ach, Lord«, fragte Tirian, »ist es denn wahr, wie die Geschichte erzählt, daß ihr beide hier gereist seid am ersten Tage, als Narnia erschaffen wurde?«
»Ja«, erwiderte Digor, »und es scheint mir, als wenn es erst gestern war.«
»Auf einem fliegenden Pferd?« fragte Tirian. »Ist das denn wahr?«
»Ja, das war doch Flügeling«, sagte Digor. Aber die Hunde bellten: »Schneller, schneller!«
So liefen sie schneller und schneller, bis es mehr ein Fliegen war. Sogar der Adler über ihnen flog nicht schneller als sie. Sie eilten durch ein gewundenes Tal die steilen Hänge der Berge hinauf und schneller denn je auf der anderen Seite hinunter. Sie folgten dem Fluß und überquerten ihn. Über Bergseen rasten sie, als wären sie lebendige Schnellboote, bis sie am letzten Ende eines langen Sees, der so blau aussah wie ein Türkis, einen grünen Hügel erblickten. Seine Hänge waren so steil wie die Seiten einer Pyramide. Rund um seine oberste Spitze aber lief ein grüner Wall, und über dem Wall erhoben sich die Zweige von Bäumen, deren Blätter wie Silber blinkten und deren Früchte wie Gold waren.
»Weiter hinein und weiter hinauf!« rief das Einhorn, und keiner blieb zurück. Sie rannten zum Fuß des Berges und stürmten hinauf wie eine Welle, die am Ufer des Meeres gegen einen Felsen anrennt. Obwohl der Hügel so steil war wie das Dach eines Hauses und das Gras so glatt wie nasser Rasen auf einem Fußballfeld, rutschte doch keiner aus. Erst als sie den obersten Gipfel erreicht hatten, gingen sie langsamer, weil sie große goldene Tore vor sich sahen. Einen Augenblick lang war keiner von ihnen kühn genug zu versuchen, ob die Tore sich öffneten. Sie alle dachten und zögerten wie bei den Früchten: Wagen wir es? Ist es denn recht? Kann es für uns bestimmt sein?