Der König rief: »Was ist das?« und Kleinod: »Schau!«
»Ein Floß!« stellte König Tirian fest.
Das stimmte. Ein halbes Dutzend frisch gefällter und geschälter Baumstämme, zu einem Floß zusammengebunden, glitt geschwind den Fluß hinab. Vorn stand eine Wasserratte mit einer Stange zum Steuern.
»He, Wasserratte! Was ist los?« schrie der König.
»Ich schaffe Holz hinunter, um es den Kalormenen zu verkaufen, Majestät«, sprach die Ratte und legte die Pfote zum Gruß an die Stirn, als hätte sie eine Mütze auf.
»Den Kalormenen?« donnerte Tirian. »Was redest du da? Wer gab den Befehl, diese Bäume zu fällen?«
Die Strömung des Wassers war zu dieser Jahreszeit so groß, daß das Floß schon an dem König und Kleinod vorbeigeglitten war. Aber die Wasserratte rief zurück:
»Des Löwen Befehl, Majestät, von Aslan selbst.« Sie fügte noch etwas hinzu, aber sie konnten es nicht mehr verstehen.
Der König und das Einhorn starrten einander an.
»Aslan«, sagte der König schließlich sehr leise, »Aslan. Könnte das sein? Ließ Aslan die heiligen Bäume fällen und die Nymphen morden?«
»Ich kann es nicht glauben. Es sei denn, die Nymphen hätten alle etwas schrecklich Unrechtes getan«, murmelte Kleinod.
»Aber sie an die Kalormenen zu verkaufen!« wunderte sich der König. »Ist das möglich?«
»Ich weiß nicht«, sagte Kleinod kläglich. »Er ist kein zahmer Löwe.«
»Nun gut«, meinte schließlich der König, »wir müssen das herausfinden, komme, was da wolle.«
»Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig, Majestät.«
Das Einhorn erkannte in diesem Augenblick nicht, wie gefährlich es war, nur zu zweit weiterzugehen, auch der König nicht. Sie waren zu wütend, um klar denken zu können.
Plötzlich lehnte sich der König schwer auf seines Freundes Nacken und beugte sein Haupt. »Kleinod«, klagte er, »was erwartet uns noch alles? Ich ahne Schreckliches. Glücklich könnten wir sein, wären wir vor dem heutigen Tag gestorben.«
»Ja«, stimmte Kleinod ihm zu. »Wir haben zu lange gelebt. Schlimmes wird über uns kommen.« Sie standen minutenlang still und gingen dann weiter.
»Obwohl sie noch nichts sehen konnten, weil ein Erdhügel sie daran hinderte, hörten sie schon lange vorher das Hack-hack- hack von Äxten, die Holz schlugen. Als sie die Höhe erreicht hatten, blickten sie unmittelbar in das frühere Laternendickicht. Des Königs Antlitz wurde weiß, als er die Wildnis sah.
Mitten durch den alten Wald – den Wald, wo goldene und silberne Bäume standen und wo ein Kind unserer Welt den Baum des Friedens gepflanzt hatte – war schon eine breite Schneise geschlagen worden, eine entsetzliche Schneise, eine klaffende Schnittwunde im Land, voll von schlammigen Spuren der gefällten und zum Fluß hinabgezogenen Bäume. Eine Menge Leute war am Werk: Peitschen knallten, und Pferde zogen und zerrten die Holzstämme.
Zuerst erkannten der König und das Einhorn verwundert, daß die Hälfte der Arbeiter keine sprechenden Tiere, sondern Menschen waren. Dann bemerkten sie, daß es nicht die hellhaarigen Bewohner von Narnia, sondern die dunklen und bärtigen Kalormenen waren. Diese grausamen Übeltäter kamen aus einem großen Land, das jenseits Archenland und hinter der Wüste im Süden liegt. Kein Grund, warum man nicht einen oder zwei Kalormenen in Narnia treffen sollte – einen Kaufmann oder einen Gesandten –, denn in diesen Tagen herrschte Frieden zwischen Narnia und Kalormen. Aber Tirian konnte nicht verstehen, warum dort so viele Kalormenen einen narnianischen Wald vernichteten. Fester packte er sein Schwert und rollte den Mantel um seinen linken Arm. Sie rannten hinunter, mitten in die Menge.
Zwei Kalormenen trieben ein Pferd, das vor einen Baum gespannt war. Als der König sie erreichte, war der Stamm gerade im Schlamm steckengeblieben.
«Vorwärts, du Sohn der Faulheit! Zieh, träges Schwein!« schrien die Kalormenen und knallten mit den Peitschen. Das Pferd zog so angestrengt, wie es nur konnte, mit blutunterlaufenen Augen und Schaum vor dem Maul.
»Los, du faules Vieh!« rief einer der Kalormenen und schlug auf das Pferd ein. Da geschah das Schreckliche. Bis jetzt glaubte Tirian, die Pferde, die die Kalormenen antrieben, seien ihre eigenen Pferde, stumme Tiere ohne Verstand, wie die Pferde unserer Welt. Obwohl Tirian nicht ertragen konnte, wenn auch nur ein stummes Pferd mißhandelt wurde, dachte er mehr an den Mörder der Bäume. Es wäre ihm nie eingefallen, daß es jemand wagen könnte, eines der freien sprechenden Pferde von Narnia zu mißbrauchen und dazu eine Peitsche zu benutzen. Unter dem grausamen Schlag bäumte sich das Pferd auf und schrie wehklagend:
»Du Narr und Tyrann! Siehst du denn nicht, daß ich schon alles tue, was in meinen Kräften steht?«
Als Tirian erkannte, daß das Pferd eines seiner eigenen narnianischen war, überkam ihn und Kleinod solche Wut, daß sie nicht wußten, was sie taten. Der König erhob sein Schwert, und Kleinod senkte sein Horn. Dann stürmten sie zusammen vor. Im nächsten Augenblick lagen beide Kalormenen tot da: der eine durch Tirians Schwert enthauptet, der andere durch Kleinods Horn mitten durchs Herz gebohrt.
3. Ein Affe spielt sich auf
»Mein armes Pferd, mein liebes tapferes Pferd«, sagte Tirian und schnitt ihm eilig die Zugriemen durch, »wie konnten dich die Fremden zu so schwerer Arbeit zwingen? Ist Narnia etwa unterworfen? Hat es eine Schlacht gegeben?«
»Nein, Majestät«, keuchte das Pferd. »Aslan ist hier. Es geht alles nach seinem Befehl. Er hat befohlen …«
»Vorsicht, Gefahr, mein König!« mahnte Kleinod. Und Tirian sah, daß Kalormenen mit ein paar sprechenden Tieren aus allen Richtungen auf sie zurannten. Die beiden toten Männer waren lautlos gestorben. Die andern hatten gar nicht bemerkt, was geschehen war; aber nun wußten sie es. Die meisten hielten blanke Krummsäbel in den Händen.
»Schnell, auf meinen Rücken!« rief Kleinod.
Der König schwang sich auf seinen treuen Freund, der umdrehte und fortpreschte. Sobald sie von ihren Feinden nicht mehr gesehen werden konnten, wechselte Kleinod zwei- oder dreimal die Richtung und kreuzte auch einen Bach. Immer noch im selben Schritt, rief er:
»Wohin jetzt, Majestät? Nach Otterfluh?«
»Halt, warte, mein Freund«, sagte Tirian. »Laß mich absteigen.« Und er glitt vom Rücken des Einhorns.
»Kleinod«, klagte der König, »wir haben etwas Schreckliches getan.«
»Man hat uns doch bis aufs Blut gereizt«, antwortete Kleinod.
»Aber wir sind plötzlich auf sie eingesprungen, und sie waren ohne Waffen. Wir sind gemeine Mörder, Kleinod, und für immer entehrt.«
Kleinod ließ den Kopf hängen, auch er schämte sich.
»Noch etwas«, sagte der König, »das Pferd meinte, alles sei Aslans Befehl. Von der Ratte hörten wir dasselbe. Alle sagen, Aslan ist hier. Wenn das nun wahr ist?«
»Aber, Majestät, wie könnte Aslan solche entsetzlichen Dinge anordnen?«
»Er ist kein zahmer Löwe«, meinte Tirian. »Wie sollen wir wissen, was er täte, wir, die wir Mörder sind? Kleinod, ich will umkehren. Ich will mein Schwert ablegen und mich selbst in die Hände dieser Kalormenen begeben. Sie sollen mich vor Aslan bringen, und er soll über mich Recht sprechen.«
»Das wird dein Tod sein!« sagte Kleinod.
»Glaubst du, ich frage danach, wenn Aslan mich zum Tode verurteilt?« erwiderte der König. »Das macht mir nichts aus. Wäre es nicht besser, tot zu sein, als diese schreckliche Angst zu haben, daß Aslan zwar gekommen ist, aber nicht als der, an den wir geglaubt haben? Es ist, als ginge plötzlich eine schwarze Sonne auf.«