»Aber diese Dinge brauchen wir doch nicht«, murrte ein alter Bär. »Wir wollen frei sein. Und wir wollen Aslan selber sprechen hören.«
»Nun fangt nicht an, mißtrauisch zu werden«, sagte der Affe aufgebracht, »denn das lasse ich nicht zu. Ich bin ein Mensch. Du aber bist nur ein fetter, törichter alter Bär. Was weißt du schon von Freiheit? Du denkst, Freiheit heißt, du kannst alles tun, was du willst. Da hast du dich aber geschnitten. Das ist keine wirkliche Freiheit. Wahre Freiheit heißt: Ihr müßt tun, was ich euch befehle.«
»H-n-n-ch«, grunzte der Bär und ließ seinen Kopf hängen. Die Dinge so zu sehen, verstand er nicht.
»Bitte, bitte«, sagte die hohe Stimme eines wolligen Lämmchens. Jeder staunte, daß ein so junges Tier überhaupt zu reden wagte.
»Was ist denn nun noch?« fragte der Affe. »Faß dich kurz.«
»Bitte«, sagte das Lämmchen, »ich verstehe das nicht. Was haben wir eigentlich mit den Kalormenen zu tun? Wir gehören zu Aslan, die anderen gehören zu Tasch. Dieser Gott Tasch hat vier Arme und einen Geierkopf. Auf seinem Altar werden Menschen getötet. Wie kann der edle und freundliche Aslan mit dem bösen Tasch befreundet sein?«
Da wandten alle Tiere ihre Köpfe, und ihre hellen Augen funkelten den Affen an. Sie wußten, das war die beste Antwort, die der Affe bisher bekommen hatte.
Wütend sprang Kniff auf und bespuckte das Lämmchen. »Kindskopf!« zischte er. »Dummer kleiner Blöker! Geh heim zu deiner Mutter und trink deine Milch. Was verstehst du schon von solchen Dingen? Hört zu, hört alle zu! Tasch ist nur ein anderer Name für Aslan. Die alte Meinung, daß wir Narnianen im Recht sind und die Kalormenen unrecht haben, ist töricht. Jetzt wissen wir es besser. Die Kalormenen gebrauchen andere Worte, aber wir meinen alle dasselbe. Tasch und Aslan sind nur zwei verschiedene Namen für … ihr wißt, wen ich meine. Deshalb können sie auch nie Streit miteinander haben. Prägt euch das ein, ihr dummes Viehzeug: Tasch ist Aslan, und Aslan ist Tasch.«
Man weiß doch, wie traurig ein Hund einen manchmal anschaut. Die Gesichter jener sprechenden Tiere aber – all dieser redlichen, bescheidenen, erstaunten Vögel, Bären, Dachse, Kaninchen, Maulwürfe und Mäuse –, sie waren alle noch viel trauriger. Jedes Tier zog seinen Schwanz ein, jedes Schnurrbarthaar sträubte sich, und ihre Gesichter waren mitleiderregend.
Nur ein Wesen sah nicht unglücklich aus: Eine rötliche Katze – ein großer schwerer Kater in der Vollkraft seines Lebens – saß kerzengerade da, den Schwanz um die Zehen gerollt, in der ersten Reihe der Tiere. Rotschopf – so nannte man ihn – hatte die ganze Zeit über scharf den Affen und den kalormenischen Hauptmann angestarrt und nicht einmal geblinzelt.
»Entschuldigt nur, Graf Kniff«, bat der Kater sehr höflich, »aber das möchte ich doch gern wissen: Sagt euer Freund aus Kalormen dasselbe wie ihr?«
»Sicher«, antwortete der Kalormene an seiner Stelle.
»Der kluge Affe, ach, ich wollte sagen: der kluge Mensch ist völlig im Recht. Aslan ist weder weniger noch mehr als Tasch.«
»Aslan ist nicht mehr als Tasch?« fragte der Kater.
»Durchaus nicht mehr«, versetzte der Kalormene und sah dem Kater gerade ins Gesicht.
»Genügt dir das, Rotschopf?« fragte der Affe schadenfroh.
»Gewiß«, erwiderte Rotschopf kühl. »Danke vielmals. Ich glaube, ich verstehe allmählich.«
Bis dahin hatten der König und Kleinod geschwiegen. Sie warteten ab, ob der Affe sie aufforderte zu reden. Sie dachten, es hätte keinen Zweck, ihn zu unterbrechen. Aber nun sah Tirian ringsherum die bekümmerten Gesichter der Narnianen; er merkte, wie sie alle anfingen zu glauben, Aslan und Tasch wären ein und derselbe. Das konnte Tirian nicht länger ertragen.
»Kniff«, schrie er laut, »du lügst, du lügst abscheulich, du lügst wie ein Kalormene, du lügst wie ein Affe!«
Er wollte fortfahren und fragen, wie der schreckliche Gott Tasch, der sich vom Blut seines Volkes nährte, derselbe sein könnte wie der gute Löwe, der mit seinem Blut ganz Narnia schützte. Hätte man dem König erlaubt weiterzusprechen, so wäre die Herrschaft des Affen noch an diesem Tag zu Ende gewesen. Aber ehe Tirian noch mehr sagen konnte, schlugen ihn zwei Kalormenen mit voller Wucht auf den Mund, und ein dritter stieß ihm von hinten fast die Füße unter dem Leib weg. Und als der König fiel, befahl der Affe wütend:
»Nehmt ihn weg, nehmt ihn weg! Schafft ihn dahin, wo er weder uns noch wir ihn hören können. Bindet ihn dort an einen Baum. Ich werde – vielmehr Aslan wird – ihm später ein gerechtes Urteil sprechen.«
4. Was in dieser Nacht geschah
Der König war ganz benommen von den Schlägen seiner Angreifer. Er wußte kaum, was geschah, bis die Kalormenen seine Handfesseln lösten, seine Arme zu beiden Seiten gerade herunterlegten und ihn mit dem Rücken an eine Esche stellten. Dann banden sie ihm mit Stricken Füße und Knie, Bauch, Brust und Arme an den Baum und ließen ihn allein.
Die kleinen Dinge sind oft am schwersten zu ertragen, und so störte es den König am meisten, daß seine Lippe blutete. Das kleine Blutgerinnsel kitzelte ihn, aber er konnte es nicht wegwischen.
Von dort, wo er war, konnte er den kleinen Stall auf der Bergkuppe sehen und Kniff, der davorsaß. Die Stimme des Affen hörte er gerade noch und ab und zu auch einen Ruf aus der Menge, aber die Worte verstand er nicht.
Ich möchte wissen, was sie wohl Kleinod angetan haben, dachte der König.
Soeben begann der Aufbruch der Tiere: sie gingen in verschiedenen Richtungen fort. Einige kamen dicht bei Tirian vorbei. Sie blickten ihn an, als wären sie zugleich erschreckt und traurig darüber, daß er dort gefesselt stand. Aber kein Tier sprach. Bald war alles gegangen, und totenstill war es im Wald. Stunde um Stunde verrann, und Tirian wurde zuerst sehr durstig und dann sehr hungrig. Als der Nachmittag sich so hinschleppte und in den Abend hinüberwechselte, wurde ihm auch kalt. Sein Rücken war wund. Die Sonne ging unter, und es begann zu dämmern.
Als es fast dunkel war, hörte Tirian ein leichtes Tripptrapp von Füßen und sah ein paar kleine Gestalten auf sich zukommen: drei Mäuse zur Linken, in der Mitte ein Kaninchen, rechts zwei Maulwürfe. Sie trugen kleine Säcke auf dem Rücken, wodurch sie im Dunkeln merkwürdig genug aussahen. Tirian wußte zuerst nicht, was das wohl für Tiere sein mochten. Da stellten sie sich schon alle auf die Hinterfüße, legten ihre kalten Pfoten auf seine Knie und beschnüffelten ihn. Sie konnten an seine Knie reichen, weil Narnias sprechende Tiere dieser Gattung größer sind als die stummen Tiere derselben Art in anderen Ländern.
»Herr König, lieber Herr König«, sagten sie mit piepsender Stimme, »wir sind so traurig. Wir können dich nicht losbinden, weil dann Aslan vielleicht auf uns böse ist. Aber wir haben dir etwas als Abendessen mitgebracht.«
Sofort kletterte die erste Maus behende hinauf, bis sie auf dem Strick saß, der Tirians Brust festband, und schob ihre stumpfe Nase vor des Königs Gesicht. Dann kletterte die zweite Maus hoch und hängte sich genau unter die erste Maus. Die anderen Tiere standen auf der Erde und reichten ihnen einige Gegenstände an.
»Trink, Majestät, dann merkst du bestimmt, daß du auch etwas essen kannst«, sagte die oberste Maus. Da spürte Tirian, daß man eine kleine hölzerne Tasse an seine Lippe hielt. Sie war nur so groß wie ein Eierbecher, so daß der König kaum den Wein darin geschmeckt hatte, als sie leer war. Aber dann reichte die Maus die Tasse zurück, die andern füllten sie von neuem, sie wurde wieder hochgereicht, und Tirian leerte sie ein zweites Mal. So fuhren sie fort, bis der König zu einem ganz ordentlichen Trunk gekommen war. In kleinen Mengen genossen ist solch ein Trunk auch viel besser, denn er löscht den Durst mehr als ein großer Schluck.
»Hier ist auch Käse, Majestät«, sagte die erste Maus, »aber wenig, sonst kriegst du zuviel Durst.« Nach dem Käse fütterten sie ihn mit Haferkuchen und frischer Butter und dann wieder mit etwas Wein.