Aber Tirian hatte keine Zeit, über Einzelheiten nachzusinnen, denn sogleich erhoben sich der jüngste Knabe und die beiden Mädchen. Irgendwer stieß einen kleinen Schrei aus. Die alte Frau stand auf und zog scharf ihren Atem ein. Auch der alte Mann bewegte sich plötzlich, und das Weinglas vor ihm wurde vom Tisch gefegt. Als es auf dem Fußboden zerbrach, hörte der König ein klingendes Geräusch.
Plötzlich erkannte Tirian, daß diese Leute ihn sehen konnten: Sie starrten ihn an, als ob sie einen Geist erblickten. Der wie ein König wirkende junge Mensch zur Rechten des alten Mannes wurde blaß und preßte seine Hände fest zusammen. Dann sagte er:
»Sprich, wenn du kein Geist oder Traum bist. Du siehst aus wie einer aus Narnia. Wir sind die sieben Freunde von Narnia.«
Tirian wollte sprechen. Er versuchte laut aufzuschreien, daß er Tirian von Narnia sei und in großer Not um Hilfe bitte. Aber er spürte, daß seine Stimme versagte. Der eine, der schon zu ihm gesprochen hatte, stand auf.
»Schatten oder Geist oder was auch sonst«, sagte er und richtete seine Augen voll auf Tirian, »wenn du von Narnia kommst, befehle ich dir im Namen Aslans, sprich zu mir. Ich bin König Peter.«
Vor Tirians Augen begann der Raum zu verschwimmen. Er hörte alle sieben gleichzeitig sprechen und sah, wie sie mit jeder Sekunde blasser wurden. Sie sagten: »Schaut nur, es verschwindet. Es schmilzt weg. Es vergeht.« Im nächsten Augenblick war Tirian hellwach. Er war noch an den Baum gebunden, kälter und steifer denn je. Der Wald lag in dem bleichen, düsteren Licht, das vor Sonnenaufgang entsteht, und alles war durchtränkt von feuchtem Tau.
Dieses Erwachen war wohl der schlimmste Augenblick in Tirians Leben.
5. Wie dem König geholfen wurde
Tirians Elend dauerte nicht mehr lange. Es gab einen Knall und dann noch einen, und plötzlich standen zwei Kinder vor ihm. Eine Sekunde früher war der Wald noch ganz leer gewesen. Sicherlich kamen die Kinder nicht hinter Tirians Baum hervor, denn da hätte er sie doch gehört. Sie waren einfach da. Auf einen Blick sah er, daß sie dieselben seltsamen, dunkelfarbigen Kleider trugen wie die Leute in seinem Traum. Beim zweiten Blick bemerkte er, daß es der jüngste Knabe und das jüngste Mädchen aus der Runde der sieben Leute waren.
»O Schreck!« rief der Junge, »das nimmt einem ja den Atem. Ich dachte…«
»Schnell, binde ihn los«, sagte das Mädchen. »Wir können uns nachher unterhalten.« Dann fügte sie hinzu, indem sie sich Tirian zuwandte, »es tut mir leid, daß wir so lange ausgeblieben sind. Wir kamen, so schnell wir nur konnten.«
Während sie noch redete, hatte der Knabe ein Messer aus seiner Tasche hervorgeholt und schnitt schnell des Königs Fesseln durch, freilich zu schnell, denn des Königs Glieder waren so steif und taub geworden, daß er, als der letzte Strick durchgeschnitten wurde, vorwärts auf Knie und Hände fiel. Er konnte erst wieder hochkommen, als durch tüchtiges Reiben etwas Leben in seine Beine zurückgekehrt war.
»Das warst du doch, nicht wahr«, erkundigte sich das Mädchen bei Tirian, »der bei uns in jener Nacht erschien, als wir alle beim Abendessen saßen? Fast vor einer Woche.«
»Eine Woche, liebes Mädchen?« fragte Tirian. »Mein Traum hat mich vor kaum zehn Minuten in eure Welt geführt.«
»Die übliche Verwirrung der Zeit, Jutta«, erklärte der Junge.
»Jetzt erinnere ich mich«, sagte Tirian. »Das kommt auch in den alten Erzählungen immer wieder vor. Die Zeit in eurem seltsamen Land ist von der unseren verschieden. Aber wenn wir schon von Zeit sprechen, es ist an der Zeit, hier wegzukommen; denn meine Feinde sind in der Nähe. Wollt ihr mit mir gehen?«
»Gewiß«, erwiderte das Mädchen. »Wir kamen doch her, um dir zu helfen.«
Tirian sprang auf seine Füße und führte sie eilig vom Stall weg den Hügel abwärts nach Süden. Er wußte, wohin es gehen sollte, aber zunächst trachtete er, auf felsige Plätze zu kommen, wo keine Fährte von ihnen zurückblieb. Sein zweites Ziel war: Wasser zu überqueren, um keine Witterung zu hinterlassen. Das kostete sie ungefähr eine Stunde mit Herumklettern und Waten, und in dieser Zeit konnte keiner sprechen. Aber auch hierbei beobachtete Tirian heimlich seine Begleiter. Das Wunder, zwischen Geschöpfen aus einer anderen Welt zu schreiten, machte ihn etwas benommen. Die alten Geschichten erschienen ihm viel wirklicher als je zuvor, und er dachte, nun könnten auch Dinge geschehen, die er sonst für unmöglich halten würde.
Sie kamen zu einem kleinen Tal, das vor ihnen zwischen jungen Birken hinunterführte. »Nun«, sagte Tirian, »sind wir für eine Weile außer Gefahr vor diesen Schurken und können leichter gehen.« Freundlich schien die Sonne, Tautropfen schimmerten und Vögel sangen.
»Wie wär’s mit etwas zu essen?« fragte der Junge. »Ich meine für dich, Herr; wir beide haben unser Frühstück schon gegessen.«
Tirian wunderte sich sehr, was sie wohl mit ›Frühstück‹ meinten. Aber als der Junge eine bauchige Tasche öffnete und daraus ein ziemlich fettes Päckchen hervorzog, wußte Tirian Bescheid. Er hatte großen Hunger, obwohl er bis jetzt nicht daran gedacht hatte. Da gab es zwei Brote mit hartgekochten Eiern, zwei Käsebrote und zwei mit einer Art Fleischpastete. Wäre er nicht so hungrig gewesen, dann hätte er kaum nach Pasteten gegriffen. Die aß man nämlich in Narnia sonst nicht.
Während Tirian alle sechs Brote verzehrte, waren sie auf dem Grund des Tales angekommen. Dort fanden sie einen moosigen Abhang, aus dem eine kleine Quelle hervorsprudelte. Alle drei tranken und kühlten ihre heißen Gesichter.
»Nun«, sagte das Mädchen und strich ihr feuchtes Haar aus der Stirn zurück, »könntest du uns erzählen, wer du bist, warum man dich an einen Baum gebunden hat und was hier sonst noch los ist.«
»Gern, mein kleines Fräulein«, versetzte Tirian. »Aber wir können nicht hier bleiben.«
Während sie weitergingen, erzählte er ihnen, wer er war und was sich alles ereignet hatte. »Jetzt«, sagte Tirian schließlich, »gehen wir zu einem bestimmten Turm, zu einem von den dreien, die zu meines Großvaters Zeiten gebaut wurden. Sie sollten das Laternendickicht vor gewissen Menschen schützen, die seinerzeit dort wohnten. In diesem Turm werden wir eine Menge Waffen und Panzerhemden finden, aber auch einige Lebensmittel, in der Hauptsache trockenen Zwieback. Dort können wir in Ruhe unsere Pläne schmieden. Und nun, bitte, erzählt mir, wer ihr beide seid, erzählt mir eure ganze Geschichte.«
»Ich bin Eugen Strubb, und das ist Jutta Pohl«, sagte der Junge. »Wir waren schon einmal hier, vor vielen, vielen Jahren, und da gab es einen Prinzen Kilian. Den hielten gewisse Kerle verborgen, der tolle Pfützmurr mischte dabei seine schmutzigen Karten.«
»Ha!« schrie Tirian, »dann seid ihr wohl Eugen und Jutta und habt König Kilian aus seiner langen Verzauberung erlöst?«
»Ja, das sind wir«, stimmte Jutta zu. »Und du bist jetzt König Kilian, nicht wahr? Natürlich, mußt du es sein. Ich vergaß…«
»Nein«, widersprach Tirian. »Ich bin Kilians siebenter Nachfolger. Er ist schon über zweihundert Jahre tot.«
Jutta verzog ihr Gesicht. »Oje«, sagte sie, »das ist das wahrhaft Erschreckende an unserer Rückkehr nach Narnia.«
Aber jetzt fuhr Eugen fort: »So, nun weißt du, wer wir sind, Majestät. Und was hat sich bei uns abgespielt? Onkel Digor und Tante Marie hatten alle Freunde von Narnia zusammengeholt…«
»Diese Namen kenne ich aber nicht«, sagte Tirian.
»Onkel Digor und Tante Marie sind doch die beiden, die zuallererst nach Narnia kamen, an dem Tage, als die Tiere sprechen lernten.«
»Bei der Mähne des Löwen!« rief Tirian. »Diese beiden meint ihr! Lord Digor und die Dame Marie! Vom Anbeginn der Welt! Und sie leben noch an eurem Ort? O Wunder und Verklärung! Aber erzählt weiter, erzählt nur!«