Sie runzelte die Stirn und erklärte: „Ich verstehe Sie nicht.“
Mit Gesten suchte er ihr klarzumachen, daß er ein Fernglas wünschte. Sie begriff schließlich und brachte ihm ein Monokular. Seine Bitte um ein Buch über Vögel wurde aber nicht erfüllt. Dr. Alir erklärte ihm zögernd, daß es etwas Derartiges nicht gäbe.
Am nächsten Tag ging er wieder hinab durch die Getreidefelder. Als er an die Stelle gelangte, von der aus das Tor zu sehen war, ließ er sich auf den Boden nieder. Auf der anderen Seite hatte er hinter einem Busch einen reglos stehenden Wächter gesehen. Corban bewegte sich so natürlich wie möglich. Er versteckte das winzige Fernglas in der Hand und fuhr sich damit über das Gesicht.
Ohne daß es dem Posten auffiel, studierte er das Schild über dem Haupteingang. Deutlich war zu lesen: UNBEFUGTEN ZUTRITT VERBOTEN. Darüber stand in großen, schwarzen Lettern ein einziges Wort: RAXTINU. Nie zuvor hatte er dieses Wort gesehen oder gehört.
Nach einer Weile stand er auf und ging langsam auf die Baumgruppe auf dem Hügelkamm zu. Vielleicht bedeutete das Wort ganz einfach Sanatorium, aber er bezweifelte es. In diesem Fall hätte man wohl kaum das Gelände mit unsichtbaren Wänden umgeben und bewaffnete Postenketten aufgestellt.
Droben im Wäldchen legte Corban sich ins Gras und dachte nach. Verbrecher konnten die Insassen dieser Anstalt kaum sein. Nichts deutete darauf hin. Viel eher war anzunehmen, daß es sich um Patienten irgendeiner Art handelte, vielleicht aber auch um politische Gefangene. Traf dies aber zu, weshalb hielt man dann ihn hier fest?
„Schon immer“, hatte der Alte gesagt.
„Bis Sie genesen sind“, hatte Dr. Alir ihm erklärt.
Wovon genesen?
In dem Gebäude gab es auch eine Bibliothek. Doch nur wenige Bücher waren darin zu finden. Sie waren schlecht gedruckt und noch schlechter gebunden. Wären nicht die Blätter aus synthetischem Stoff gewesen, so hätte Corban sie für die Erzeugnisse irgendeiner unterentwickelten Kulturstufe gehalten. Die Sprache dieser Bücher war sehr einfach, und meist handelten sie von völlig unverfänglichen Gegenständen wie etwa Landwirtschaft oder Basteln. Auf seine entsprechende Bitte brachte Dr. Alir ihm einen dünnen Band, der so etwas Ähnliches wie ein Lexikon darstellte.
Schon beim ersten Blick in dieses Buch verwirrte Corban die Tatsache, daß es nicht in alphabetischer Form angelegt war. Er kam nicht ganz hinter das zugrundeliegende System. Offensichtlich aber waren die Wörter nach ihrer Bedeutung geordnet. Das Buch wirkte eher wie eine Sammlung von Ausdrücken, für den Gebrauch von Autoren bestimmt.
Da dieses Buch sehr dünn war, hatte er es rasch durchgesehen. Das Wort „Raxtinu“ tauchte darin nicht auf.
Die unsichtbare Energiebarriere umschloß ein riesiges Gebiet. Eines Morgens machte Corban sich nach dem Sprachunterricht auf den Weg und versuchte, der Barriere rings um das ganze Gelände zu folgen. Als er am späten Nachmittag zurückkehrte, hatte er noch nicht das Ende der einen Seite erreicht, die parallel der Straße verlief. Auf dem ganzen Weg sah er immer wieder Wachtposten. Aus Raxtinu auszubrechen, war bestimmt nicht einfach.
Abends setzte Corban sich immer zu dem Spieler. Auch andere Insassen gesellten sich dazu, doch schien ihr Interesse mehr Corban als dem Spieler zu gelten. Insbesondere die jüngeren Frauen interessierten sich für Paul. Er benahm sich ihnen gegenüber ziemlich linkisch. Als Offizier der Raumflotte hatte er nie an Heirat gedacht, denn monate- oder gar jahrelange Trennung schienen nicht gerade die geeignete Grundlage für eine glückliche Ehe zu sein. Sein kommandierender Offizier, Commander Winslow, war aber anderer Ansicht. Er hielt Corban für einen glänzenden jungen Offizier mit großer Zukunft, und seiner Meinung nach war für einen jungen Offizier nichts nützlicher als eine verständnisvolle Frau.
„Ich lade meine Schwester ein, uns hier einige Monate zu besuchen“, sagte er eines Tages zu Corban. „Sie ist hübsch und ein wirklich nettes Mädchen. Wir sind uns schon immer nahegestanden. Sie wäre eine sehr gute Frau für einen jungen Offizier, und ich möchte gern, daß Sie sie kennenlernen.“
Das war nun einmal Commander Winslows Art. Dagegen konnte man nichts machen. Corban mußte auch zugeben, daß seine Schwester zumindest auf dem Foto sehr gut aussah. Er konnte ja schließlich auch seinem Vorgesetzten nicht gut sagen, daß er keinen Wert darauf lege, dessen Schwester kennenzulernen.
Das war kurz vor dem Abflug vom Stützpunkt Qualo gewesen. Bei seiner Rückkehr hätte er Sylvia Winslow antreffen sollen. Inzwischen hatte Winslow aber wohl einen anderen Offizier für seine Schwester gefunden.
Corban war andererseits aber auch nicht geneigt, eine dieser Patientinnen zur Frau zu nehmen und sich in einem der kleinen Dörfer niederzulassen, die er auf seiner Wanderung gesehen hatte. Die Bemerkung des alten Mannes verfolgte ihn. „Schon immer“, hatte er gesagt. Corban aber hatte nicht die Absicht, immer in Raxtinu zu bleiben.
Zwei Patienten traten aus der Dunkelheit auf ihn zu und ließen sich neben Corban nieder. Er hatte sie nie zuvor gesehen und nahm an, daß sie in einem anderen Gebäude wohnten. Auf seinen Spaziergängen hatte er mehrere große Gebäude bemerkt. Während der Alte sang, blickten die beiden Corban an, und er seinerseits betrachtete sie forschend.
Einer der beiden, ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, hatte das normale Aussehen der Bewohner dieses Planeten. Der andere dagegen besaß flammend rotes Haar. Bis jetzt hatte Corban unter den Leuten dieses Planeten noch niemanden mit rotem Haar bemerkt.
Der Alte beendete sein Lied und schlug noch einige Akkorde an.
„Sie sind wohl neu hier, was“ fragte der Rotkopf.
Corban nickte. Das war die übliche Frage, die man ihm immer wieder stellte.
„Wie heißen Sie denn?“
„Paul“, erklärte Corban.
Der Rotkopf schien überrascht. Er öffnete den Mund, als wollte er eine weitere Frage stellen, zögerte und sah dann seinen Begleiter an.
Plötzlich mischte sich der Alte in das Gespräch. „Er hatte einen Unfall, einen sehr schweren Unfall.“
„So, so“, meinte der Rotkopf. „Wohl Kopfverletzung, was?“
„Alle möglichen Verletzungen“, antwortete Corban.
„Das erklärt vieles.“
Die beiden Männer zogen sich zurück. In einiger Entfernung unterhielten sie sich leise, und an jenem Abend beobachteten sie ihn ununterbrochen mit unverhohlener Neugier. Mehrere Tage lang tauchten sie regelmäßig am Abend auf, setzten sich neben Corban, beobachteten ihn und hörten den Gesprächen zu. Dann sah er sie nicht mehr.
Raxtinu hieß das Wort, und er mußte herausfinden, was es bedeutete. Ganz vorsichtig plante er sein Vorgehen. „In einigen der Bücher“, erklärte er Dr. Alir, „bin ich auf Wörter gestoßen, deren Bedeutung ich nicht kenne. Diese Wörter sind auch nicht im Lexikon zu finden. Gibt es irgendwo in diesem Gebäude ein größeres Lexikon?“
„Das ist seltsam“, meinte sie. „Wie heißen denn die Wörter? Vielleicht kann ich Ihnen sagen, was sie bedeuten.“
„Ich habe sie mir nicht aufgeschrieben“, antwortete er. „Das werde ich in Zukunft aber tun. Ich möchte Ihnen jedoch nicht Ihre Zeit stehlen und Sie jedesmal stören, wenn ich auf ein fremdes Wort stoße. Gibt es nicht irgendwo ein Nachschlagewerk?“
„Im Büro des Direktors gibt es eine Datenverarbeitungsmaschine. Diese Maschine ist allerdings nur für das Personal bestimmt. Aber vielleicht kann ich für Sie eine Sondererlaubnis bekommen.“
„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das versuchen wollten“, bedankte sich Corban. „Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht ein Buch über Vögel schreiben könnte, da darüber kein Werk existiert. Hier gibt es viele Vögel der verschiedensten Arten, und vielleicht könnte das Beobachten von Vögeln für einige andere Insassen dieser Anstalt eine Ablenkung bedeuten.“
„Das ist eine ausgezeichnete Idee. Ich werde mit dem Direktor darüber sprechen.“