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Atréju ritt noch in derselben Nacht bis zum Fuß der Silberberge. Es war schon gegen Morgen, als er Rast machte. Artax weidete ein wenig und soff Wasser aus einem klaren Gebirgsbach. Atréju wickelte sich in seinen roten Mantel und schlief ein paar Stunden. Doch als die Sonne aufging, waren sie schon wieder unterwegs.

Am ersten Tag durchquerten sie die Silberberge. Hier war ihnen beiden jeder Weg und jeder Steg bekannt, und sie kamen rasch vorwärts. Als er Hunger bekam, aß der Junge ein Stück getrocknetes Büffelfleisch und zwei kleine Fladen aus Grassamen, die er in einem Sack am Sattel aufbewahrt hatte - eigentlich für seine Jagd.

»Na also!« sagte Bastian,»ab und zu muß der Mensch einfach was essen.«

Er holte das Pausebrot aus der Mappe, packte es aus, brach es sorgfältig m zwei Stücke, wickelte das eine wieder ein und steckte es weg. Das andere aß er auf.

Die Pause war vorbei, Bastian überlegte, was jetzt in der Klasse drankommen würde. Ah, richtig, Erdkunde bei Frau Karge. Man mußte Flüsse und Nebenflüsse aufzählen, Städte und Einwohnerzahlen, Bodenschätze und Industrien. Bastian zuckte die Achseln und las weiter.

Bei Sonnenuntergang lagen die Silberberge hinter ihnen, und sie machten wieder Rast. In dieser Nacht träumte Atréju von den Purpurbüffeln. Er sah sie fern durch das Gräserne Meer ziehen und versuchte, ihnen auf seinem Pferd nahe zu kommen. Aber es war vergebens. Sie blieben immer gleich weit von ihm entfernt, so sehr er sein Pferdchen auch antrieb.

Am zweiten Tag kamen sie durch das Land der Singenden Bäume. Jeder von ihnen hatte eine andere Gestalt, andere Blätter, eine andere Rinde, aber der Grund, warum man dieses Land so nannte, war, daß man ihr Wachstum hören konnte wie eine sanfte Musik, die von nah und fern erklang und sich zu einem mächtigen Ganzen vereinte, das an Schönheit mit nichts sonst in Phantásien zu vergleichen war. Es galt als nicht ganz ungefährlich, durch diese Gegend zu ziehen, denn manch einer war schon wie verzaubert sitzen geblieben und hatte alles vergessen. Auch Atréju empfand die Macht dieser wunderbaren Klänge, aber er ließ sich nicht verführen, innezuhalten.

In der darauffolgenden Nacht träumte er wieder von den Purpurbüffeln. Diesmal war er zu Fuß, und sie zogen in einer großen Herde an ihm vorüber. Aber sie waren außerhalb der Reichweite seines Bogens, und als er näher heranpirschen wollte, merkte er, daß seine Füße wie mit dem Erdboden verwachsen waren und sich nicht bewegen ließen. Über der Anstrengung, sie loszureißen, erwachte er. Es war noch vor Sonnenaufgang, aber er brach sogleich auf.

Am dritten Tag sah er die Gläsernen Türme von Eribo, in denen die Bewohner dieser Gegend das Sternenlicht auffingen und sammelten. Sie machten daraus wunderbar verzierte Gegenstände, von denen aber außer ihnen selbst niemand in Phantásien wußte, wozu sie eigentlich dienten.

Er traf sogar einige dieser Leute, kleine Gestalten, die selber wie aus Glas geblasen aussahen. Sie versorgten ihn außerordentlich freundlich mit Speise und Trank, aber auf seine Frage, wer über die Krankheit der Kindlichen Kaiserin etwas wissen könnte, versanken sie in trauriges und ratloses Schweigen.

In der Nacht, die darauf folgte, träumte Atréju abermals, daß die Herde der Purpurbüffel an ihm vorüberzog. Er sah, wie eines der Tiere, ein besonders großer, stattlicher Bulle, sich von der Gruppe der anderen löste und auf ihn zukam, langsam und ohne Anzeichen von Angst oder Wut. Und wie alle wahren Jäger, so hatte auch Atréju die Gabe, an jedem Geschöpf sofort die Stelle zu sehen, die er treffen mußte, um es zu erlegen. Der Purpurbüffel stellte sich sogar so, daß er sie ihm regelrecht zum Ziel bot. Atréju legte den Pfeil auf und spannte den starken Bogen mit aller Kraft - aber er konnte nicht schießen. Seine Finger waren wie mit der Bogensehne verwachsen und ließen sie nicht los.

Und so oder ähnlich erging es ihm in den Träumen aller folgenden Nächte. Er kam dem Purpurbüffel immer näher - es war übrigens genau der, den er in Wirklichkeit hatte erlegen wollen, er erkannte ihn an einem weißen Fleck auf der Stirn - aber aus irgendeinem Grund konnte er den tödlichen Pfeil nicht abschicken.

An den Tagen ritt er weiter und immer weiter, ohne zu wissen wohin und ohne jemanden zu finden, der ihm hätte raten können. Das goldene Amulett, das er trug, wurde von allen Wesen respektiert, die ihm begegneten, aber Antwort auf seine Frage wußte keines.

Einmal erblickte er von fern die Flammenstraßen der Stadt Brousch, wo die Geschöpfe wohnten, deren Leiber aus Feuer bestehen, aber dort kehrte er lieber nicht ein. Er durchritt das weite Hochland der Sassafranier, die alt geboren werden und sterben, wenn sie Säuglinge geworden sind. Er kam in den Urwaldtempel von Muamath, in welchem eine große Säule aus Mondstein frei in der Luft schwebt, und er sprach mit den Mönchen, die dort lebten. Aber auch hier mußte er ohne Auskunft weiterziehen.

Fast eine Woche war er nun schon so kreuz und quer umhergeirrt, als er am siebenten Tag und der darauffolgenden Nacht zwei ganz verschiedene Dinge erlebte, die seine innere und äußere Situation gründlich änderten.

Die Erzählung des alten Caíron von den schrecklichen Vorkommnissen, die sich in allen Teilen Phantásiens ereigneten, hatte ihn zwar beeindruckt, aber bisher war das alles für ihn eben doch nur ein Bericht gewesen. Am siebenten Tag aber sollte er sie mit eigenen Augen sehen.

Es war um die Mittagszeit, als er durch einen dichten, dunklen Wald ritt, der aus besonders riesenhaften, knorrigen Bäumen bestand. Es war jener Haulewald, in dem sich einige Zeit vorher die vier Boten getroffen hatten. In dieser Gegend, das wußte Atréju, gab es Borkentrolle. Das waren, wie man ihm gesagt hatte, riesenhafte Kerle und Kerlinnen, die selber wie knorrige Baumstämme aussahen. Falls sie sich, wie es ihre Gewohnheit war, reglos hielten, konnte man sie sogar wirklich für Bäume halten und ahnungslos an ihnen vorüberreiten. Nur wenn sie sich bewegten, sah man, daß sie astartige Arme und krumme, wurzelartige Beine hatten. Sie waren zwar ungeheuer stark, aber nicht gefährlich - höchstens daß sie hin und wieder gern Schabernack mit verirrten Wanderern trieben.

Atréju hatte eben eine Waldwiese entdeckt, durch die sich ein Bächlein schlängelte, und war abgestiegen, um Artax trinken und grasen zu lassen, als er plötzlich ein gewaltiges Prasseln und Knacken hinter sich im Gehölz hörte und sich umwandte.

Aus dem Wald kamen drei Borkentrolle auf ihn zu, bei deren Anblick ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief. Dem ersten fehlten die Beine und der Unterleib, so daß er auf seinen Händen gehen mußte. Der zweite hatte ein riesiges Loch in der Brust, durch das man hindurchschauen konnte. Der dritte hüpfte auf seinem einzigen rechten Bein, denn seine gesamte linke Hälfte fehlte, so als sei er mitten entzweigeschnitten worden.

Als sie das Amulett auf Atréjus Brust sahen, nickten sie einander zu und kamen langsam nahe heran.

»Erschrick nicht!« sagte der, der auf den Händen ging, und seine Stimme klang wie das Knarren eines Baumes,»unser Anblick ist gewiß nicht gerade schön, aber es gibt in diesem Teil des Haulewaldes niemanden mehr außer uns, der dich warnen könnte. Darum sind wir gekommen.«

»Warnen?« fragte Atréju,»wovor?«