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Das herrliche Tier blutete aus vielen Wunden, denn da war noch etwas anderes, etwas Riesiges, das sich immer von neuem blitzschnell über den weißen Drachenleib stürzte wie eine dunkle Wolke, die ununterbrochen ihre Gestalt änderte. Bald glich sie einer Riesenspinne mit langen Beinen, vielen glühenden Augen und einem dicken Körper, der mit einem schwarzen, verfilzten Haargestrüpp bedeckt war, dann wurde sie zu einer einzigen großen Hand mit langen Klauen, die den Glücksdrachen zu zerquetschen suchte, und irn nächsten Augenblick verwandelte sie sich in einen schwarzen Riesenskorpion, der mit seinem Giftstachel nach seinem unglücklichen Opfer schlug.

Der Kampf zwischen den beiden gewaltigen Wesen war fürchterlich. Der Glücksdrache verteidigte sich noch, indem er blaues Feuer spie, das die Borsten des wolkenartigen Geschöpfes versengte. Rauch quoll auf und wirbelte in Schwaden durch die Felsenspalte. Der Gestank machte Atréju das Atmen fast unmöglich. Einmal gelang es dem Glücksdrachen sogar, seinem Gegner eines seiner langen Beine abzubeißen. Doch das abgetrennte Glied fiel nicht etwa in die Tiefe des Abgrunds, sondern bewegte sich einen Augenblick allein in der Luft und kehrte dann an seinen vorigen Platz zurück und vereinigte sich wieder mit dem dunklen Wolkenkörper. Und so geschah es immer wieder, der Drache schien ins Leere zu beißen, sobald er eines der Glieder mit seinen Zähnen fassen konnte.

Nun erst bemerkte Atréju, was ihm bisher entgangen war: Dieses ganze grausige Geschöpf bestand gar nicht aus einem einzigen, festen Körper, sondern aus unzähligen kleinen stahlblauen Insekten, die wie zornige Hornissen summten und im dichten Schwärm immer neue Gestalten bildeten.

Es war Ygramul, und nun wußte Atréju auch, warum sie »die Viele« genannt wurde.

Er sprang aus seinem Versteck hervor, griff nach dem Kleinod auf seiner Brust und schrie, so laut er konnte:

»Halt! Im Namen der Kindlichen Kaiserin! Halt!«

Doch im Brüllen und Fauchen der kämpfenden Geschöpfe ging seine Stimme unter. Er selbst hörte sie kaum.

Ohne zu überlegen, lief er über die klebrigen Seile des Netzes auf die Kämpfenden zu. Das Netz schwirrte unter seinen Füßen. Er verlor das Gleichgewicht, fiel durch die Maschen, hing nur noch an den Händen über der finsteren Tiefe, zog sich wieder hinauf, klebte fest, kämpfte sich wieder frei und eilte weiter.

Ygramul fühlte plötzlich, daß sich ihr etwas näherte. Sie fuhr blitzschnell herum, und ihr Anblick war entsetzlich: Sie war jetzt nur noch ein riesenhaftes stahlblaues Gesicht mit einem einzigen Auge über der Nasenwurzel, das mit einer senkrechten Pupille voll unvorstellbarer Bosheit auf Atréju starrte.

Bastian stieß einen leisen Schreckenslaut aus.

Ein Schreckensschrei hallte durch die Schlucht und wurde als Echo hin- und hergeworfen. Ygramul drehte ihr Auge nach links und rechts, um zu sehen, ob da noch ein anderer Ankömmling war, denn der Junge, der wie gelähmt vor Grausen vor ihr stand, konnte es nicht gewesen sein. Aber da war niemand.

»Sollte es am Ende mein Schrei gewesen sein, den sie gehört hat?« dachte Bastian zutiefst beunruhigt.»Aber das ist doch überhaupt nicht möglich.«

Und nun hörte Atréju Ygramuls Stimme. Es war eine sehr hohe und etwas heisere Stimme, die ganz und gar nicht zu ihrem Riesengesicht passen wollte. Auch bewegte sie den Mund nicht beim Sprechen. Es war das Surren eines riesigen Hornissenschwarms, das sich zu Worten formte:

»Ein Zweibein!« hörte Atréju,»nach so langer, langer Zeit des Hungers gleich zwei Leckerbissen! Was für ein Glückstag für Ygramul!«

Atréju mußte alle Kraft zusammennehmen. Er hielt den»Glanz« vor das einzige Auge des Ungeheuers und fragte:

»Kennt ihr dieses Zeichen?«

»Komm näher, Zweibein!« surrte der vielstimmige Chor.»Ygramul sieht nicht gut.«

Atréju trat einen Schritt weiter auf das Gesicht zu. Es öffnete jetzt den Mund. Anstelle der Zunge hatte es zahllose flimmernde Fühler, Zangen und Greifer.

»Noch näher!« summte der Schwärm.

Noch einmal tat er einen Schritt und stand nun so nahe vor dem Gesicht, daß er deutlich die zahllosen stahlblauen Einzelwesen sehen konnte, die wie wild durcheinander wirbelten. Und doch blieb das schreckliche Gesicht im ganzen reglos.

»Ich bin Atréju«, sagte er,»und stehe im Auftrag der Kindlichen Kaiserin.«

»Du kommst ungelegen«, antwortete das zornige Surren nach einer Weile.»Was willst du von Ygramul? Sie ist sehr beschäftigt, wie du siehst.«

»Ich will diesen Glücksdrachen«, antwortete Atréju,»gebt ihn mir!«

»Wozu brauchst du ihn, Atréju Zweibein?«

»Ich habe in den Sümpfen der Traurigkeit mein Pferd verloren. Ich muß zum Südlichen Orakel, denn nur die Uyulála kann mir sagen, wer der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen geben kann. Bekommt sie den nicht, muß sie sterben und ganz Phantásien mit ihr - auch ihr, Ygramul, die man die Viele nennt.«

»Ah!« klang es gedehnt von dem Gesicht her,»ist das der Grund für diese Stellen, wo nichts mehr ist?«

»Ja«, entgegnete Atréju,»ihr wißt es also auch, Ygramul. Doch das Südliche Orakel liegt zu weit entfernt, als daß ich es innerhalb der Zeit, die mein Leben dauern mag, erreichen könnte. Darum fordere ich diesen Glücksdrachen von euch. Wenn er mich durch die Luft trägt, kann ich das Ziel vielleicht noch erreichen.«

Aus dem wirbelnden Schwärm, der das Gesicht bildete, war etwas zu hören, was ein vielstimmiges Kichern sein konnte.

»Du irrst dich, Atréju Zweibein. Wir wissen nichts vom Südlichen Orakel und nichts von Uyulála, aber wir wissen, daß der Drache dich nicht mehr tragen kann. Und selbst wenn er unverletzt wäre, würde eure Reise so lang dauern, daß die Kindliche Kaiserin inzwischen ihrer Krankheit erlegen wäre. Nicht nach deinem Leben, Atréju Zweibein, mußt du deine Suche bemessen, sondern nach ihrem.«

Der Blick aus dem Auge mit der senkrechten Pupille war kaum zu ertragen, und Atréju senkte den Kopf.

»Das ist wahr«, sagte er leise.

»Außerdem«, fuhr das Gesicht fort, ohne sich zu regen,»ist Ygramuls Gift im Körper des Drachen. Ihm bleibt höchstens noch ein Stündchen zu leben.«

»Dann«, murmelte Atréju,»gibt es keine Hoffnung mehr, nicht für ihn, nicht für mich und auch nicht für euch, Ygramul.«

»Nun«, summte die Stimme,»Ygramul würde zumindest noch einmal gut gespeist haben. Aber noch ist nicht gesagt, daß es wirklich Ygramuls letzte Mahlzeit ist. Sie wüßte wohl noch ein Mittel, dich im Handumdrehen zum Südlichen Orakel zu befördern. Nur, ob es dir gefällt, Atréju Zweibein, das ist die Frage.«

»Wovon sprecht ihr?«

»Es ist Ygramuls Geheimnis. Auch die Geschöpfe des Abgrunds haben ihre Geheimnisse, Atréju Zweibein. Ygramul hat es niemals bisher preisgegeben. Und auch du mußt schwören, daß du es niemals verraten wirst. Denn es wäre zu Ygramuls Schaden, oh, sehr zu Ygramuls Schaden, wenn es bekannt würde.«

»Ich schwöre es. Redet!«

Das stahlblaue Riesengesicht neigte sich ein wenig vor und summte kaum hörbar: