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»Du mußt dich von Ygramul beißen lassen.«

Atréju fuhr entsetzt zurück.

»Ygramuls Gift«, fuhr die Stimme fort,»tötet innerhalb einer Stunde, aber es verleiht dem, der es in sich trägt, zugleich die Macht, sich an jeden Ort Phantásiens zu versetzen, den er wünscht. Denk dir nur, wenn das bekannt würde! Alle Opfer würden Ygramul entwischen!«

»Eine Stunde?« rief Atréju,»aber was kann ich denn in einer einzigen Stunde ausrichten?«

»Nun -«, summte der Schwärm,»es ist immerhin mehr als alle Stunden, die dir hier noch verbleiben. Entscheide du!«

Atréju kämpfte mit sich.

»Werdet ihr den Glücksdrachen freilassen, wenn ich euch im Namen der Kindlichen Kaiserin darum bitte?« fragte er schließlich.

»Nein«, antwortete das Gesicht,»du hast kein Recht, Ygramul darum zu bitten, auch wenn du AURYN, den Glanz, trägst. Die Kindliche Kaiserin läßt uns alle gelten als das, was wir sind. Darum beugt sich auch Ygramul ihrem Zeichen. Und du weißt das alles gut.«

Atréju stand noch immer mit gesenktem Kopf. Was Ygramul da sagte, war die Wahrheit. Also konnte er den weißen Glücksdrachen nicht retten. Seine eigenen Wünsche zählten nicht.

Er richtete sich auf und sagte:»Tu, was du vorgeschlagen hast!«

Blitzschnell fiel die stahlblaue Wolke über ihn her und umhüllte ihn von allen Seiten. Er fühlte einen rasenden Schmerz in der linken Schulter und dachte nur noch: Zum Südlichen Orakel!

Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.

Als kurze Zeit später der Wolf die Stelle erreicht hatte, sah er das riesige Spinnennetz - aber sonst niemand mehr. Die Spur, die er bis hierher verfolgt hatte, riß plötzlich ab, und er konnte sie trotz aller Anstrengung nicht wiederfinden.

Bastian hielt inne. Er fühlte sich elend, als ob er selbst Ygramuls Gift in seinem Körper hätte.

»Gott sei Dank«, sagte er leise vor sich hin,»daß ich nicht in Phantásien bin. Solche Monster gibt es zum Glück in Wirklichkeit nicht. Das alles ist eben nur eine Geschichte.«

Aber war es wirklich nur eine Geschichte? Wie war es dann möglich, daß Ygramul und wahrscheinlich auch Atréju Bastians Schreckensschrei gehört hatten?

Dieses Buch fing langsam an, ihm unheimlich zu werden.

5.

Die Zweisiedler

Einen schrecklichen Augenblick lang befiel Atréju Zweifel, ob Ygramul ihn nicht doch betrogen hatte, denn als er zu sich kam, befand er sich noch immer in der Felsenwüste.

Er richtete sich mühsam auf. Und nun sah er, daß er zwar in einer Bergwildnis war, aber in einer ganz anderen. Das Land sah aus, als bestünde es ganz und gar aus großen rostroten Felstafeln, die aufeinander gestapelt und übereinander geschoben waren und so allerhand eigentümliche Türme und Pyramiden bildeten. Dazwischen bedeckten niedrige Sträucher und Kräuter den Boden. Es herrschte sengende Hitze. Die Landschaft war in strahlendes, ja grelles Sonnenlicht getaucht, das die Augen blendete.

Atréju beschattete sein Gesicht mit der Hand und erblickte etwa eine Meile entfernt ein unregelmäßig geformtes Felsentor, dessen Bogen aus waagrecht liegenden Steinplatten gebildet war und das vielleicht hundert Fuß hoch sein mochte.

Sollte das der Eingang zum Südlichen Orakel sein? Soweit er sehen konnte, lag hinter dem Tor nichts als eine endlose leere Ebene, kein Gebäude, kein Tempel, kein Hain - nichts, was einer Orakelstätte ähnlich sah.

Während er noch überlegte, was er tun sollte, hörte er plötzlich eine tiefe, bronzene Stimme:

»Atréju!« und dann noch einmaclass="underline" »Atréju!«

Er wandte sich um und sah hinter einem der rostroten Felsentürme den weißen Glücksdrachen hervorkommen. Blut rann aus seinen Wunden, und er war so geschwächt, daß er sich nur mit Mühe zu ihm hinschleppen konnte. Dennoch zwinkerte er lustig mit einem seiner rubinroten Augen und sagte:

»Wundere dich nicht allzusehr, daß ich auch hier bin, Atréju. Ich war zwar wie gelähmt, als ich im Spinnennetz hing, aber ich habe doch alles mitgehört, was Ygramul dir sagte. Und da dachte ich, gebissen bin ich schließlich auch von ihr, warum soll ich nicht ebenfalls von dem Geheimnis Gebrauch machen, das sie dir anvertraut hat? So bin ich ihr entkommen.«

Atréju freute sich.

»Es war mir schwer, dich Ygramul, zu überlassen«, sagte er,»aber was hätte ich tun können?«

»Nichts«, antwortete der Glücksdrache.»Du hast mir trotzdem das Leben gerettet - wenn auch nicht ohne meine Mithilfe.«

Und abermals zwinkerte er, diesmal mit dem anderen Auge.

»Das Leben gerettet -«, wiederholte Atréju,»für eine Stunde, denn mehr bleibt uns beiden nicht. Ich fühle das Gift Ygramuls mit jedem Augenblick stärker.«

»Für jedes Gift gibt es ein Gegengift«, antwortete der weiße Drache,»du wirst sehen, daß alles gutgehen wird.«

»Ich wüßte nicht wie«, meinte Atréju.

»Ich auch nicht«, erwiderte der Drache,»aber das ist gerade das Schöne. Von jetzt an wird dir alles gelingen. Schließlich bin ich ein Glücksdrache. Auch als ich im Netz hing, habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben - und wie du siehst, mit Recht.«

Atréju lächelte.

»Sag mir, warum hast du dich hierher versetzt - und nicht an einen anderen, besseren Ort, wo du vielleicht Heilung finden könntest?«

»Mein Leben gehört dir«, sagte der Drache,»wenn du es annehmen willst. Ich dachte mir, du wirst ein Reittier brauchen für die Große Suche. Und du wirst sehen, es ist ein ganz anderes Ding, ob man auf zwei Beinen durch die Gegend krabbelt, sogar ob man auf einem guten Pferd dahingaloppiert, oder ob man auf dem Rücken eines Glücksdrachen durch die Himmelslüfte braust. Abgemacht?«

»Abgemacht!« antwortete Atréju.

»Übrigens«, fügte der Drache hinzu,»mein Name ist Fuchur.«

»Gut, Fuchur«, sagte Atréju,»aber während wir reden, verrinnt die wenige Zeit, die uns noch bleibt. Ich muß etwas tun. Aber was?«

»Glück haben«, antwortete Fuchur,»was sonst?«

Doch Atréju hörte ihn nicht mehr. Er war niedergefallen und lag reglos, eingerollt in die weichen Krümmungen des Drachenleibes.

Ygramuls Gift tat seine Wirkung.

Als Atréju - wer weiß wie lange Zeit später - seine Augen wieder aufschlug, sah er zunächst nichts als ein höchst sonderbares Gesicht über das seine geneigt. Es war das schrumpeligste und faltigste Gesicht, das er je gesehen hatte, aber es war nur ungefähr so groß wie seine Faust. Es war dunkelbraun wie ein Bratapfel, und die Äuglein darin glitzerten wie Sterne. Auf dem Kopf saß so etwas wie eine Haube aus welken Blättern.

Dann fühlte Atréju, daß ihm ein kleines Trinkgefäß an die Lippen gehalten wurde.

»Schöne Medizin, gute Medizin!« murmelten die faltigen kleinen Lippen in dem runzeligen Gesichtchen,»trink nur, mein Kind, trink. Tut gut!«

Atréju nippte. Es schmeckte eigenartig, ein wenig süß und doch herb.

»Was ist mit dem weißen Drachen?« brachte er mühsam heraus.

»Schon in Ordnung,« antwortete das raunende Stimmchen,»mach dir keine Sorgen, mein Jungchen. Wird wieder gesund. Werdet beide wieder gesund. Habt das Schlimmste schon hinter euch. Trink nur, trink!«

Atréju nahm noch einen Schluck und fiel sofort wieder in Schlaf, aber diesmal war es der tiefe, erquickende Schlaf der Genesung.

Die Turmuhr schlug zwei.

Bastian konnte es nicht mehr länger unterdrücken: Er mußte dringend aufs Klo. Er mußte schon seit einer ganzen Weile, aber er hatte einfach nicht aufhören können zu lesen. Und außerdem fürchtete er sich ein bißchen davor, ins Schulhaus hinunterzugehen. Er sagte sich selbst, daß es dafür keinen Grund gab, es war ja leer, niemand würde ihn sehen. Und trotzdem hatte er Angst, so als ob das Schulhaus selbst ein Wesen wäre, das ihn beobachten würde.