»Das hab' ich einmal gemacht…«
»Na und?«
»Sie haben mich in eine Mülltonne geschmissen und den Deckel zugebunden. Ich hab' zwei Stunden gerufen, bis mich jemand gehört hat.«
»Hm«, brummte Herr Koreander,»und jetzt traust du dich nicht mehr.«
Bastian nickte.
»Also«, stellte Herr Koreander fest,»ein Angsthase bist du obendrein.«
Bastian senkte den Kopf.
»Wahrscheinlich bist du ein rechter Streber, wie? Der Klassenbeste mit lauter Einsern, der Liebling aller Lehrer, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Bastian und hielt immer noch den Blick gesenkt,»ich bin letztes Jahr sitzengeblieben.«
»Gott im Himmel!« rief Herr Koreander,»also ein Versager auf der ganzen Linie.«
Bastian sagte nichts. Er stand einfach nur da. Seine Arme hingen herunter, sein Mantel tropfte.
»Was schreien sie denn so, wenn sie dich verspotten?« wollte Herr Koreander wissen.
»Ach - alles mögliche.«
»Zum Beispiel?«
»Wambo! Wambo! Sitzt auf dem Potschambo! Potschambo bricht, der Wambo spricht: Das war mein Schwergewicht.«
»Nicht sehr witzig«, meinte Herr Koreander,»was noch?«
Bastian zögerte, ehe er aufzählte:
»Spinner, Mondkalb, Aufschneider, Schwindler…«
»Spinner? Warum?«
»Ich red' manchmal mit mir selber.«
»Was redest du da zum Beispiel?«
»Ich denk' mir Geschichten aus, ich erfinde Namen und Wörter, die's noch nicht gibt, und so.«
»Und das erzählst du dir selbst? Warum?«
»Na ja, sonst ist doch niemand da, den so was interessiert.«
Herr Koreander schwieg eine Weile nachdenklich.
»Was meinen denn deine Eltern dazu?«
Bastian antwortete nicht gleich. Erst nach einer Weile murmelte er;»Vater sagt nichts. Er sagt nie was. Es ist ihm alles ganz gleich.«
»Und deine Mutter?«
»Die - ist nicht mehr da.«
»Sind deine Eltern geschieden?«
»Nein«, sagte Bastian,»sie ist tot.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Herr Koreander erhob sich mit einiger Anstrengung aus seinem Lehnstuhl und schlurfte in ein kleines Kabinett, das hinter dem Laden lag. Er hob ab, und Bastian hörte undeutlich, wie Herr Koreander seinen Namen nannte. Dann schloß sich die Tür des Kabinetts, und nun war nichts mehr zu hören als ein dumpfes Gemurmel.
Bastian stand da und wußte nicht recht, wie ihm geschehen war und warum er das alles gesagt und zugegeben hatte. Er haßte es, so ausgefragt zu werden. Siedendheiß fiel ihm plötzlich ein, daß er schon viel zu spät in die Schule kommen würde, ja, gewiß, er mußte sich beeilen, er mußte rennen - aber er blieb stehen, wo er stand und konnte sich nicht entschließen. Irgend etwas hielt ihn fest, er wußte nicht was.
Die dumpfe Stimme klang immer noch aus dem Kabinett herüber. Es war ein langes Telefongespräch.
Bastian wurde sich bewußt, daß er die ganze Zeit schon auf das Buch starrte, das Herr Koreander vorher in Händen gehalten hatte und das nun auf dem Ledersessel lag. Er konnte einfach seine Augen nicht abwenden davon. Es war ihm, als ginge eine Art Magnetkraft davon aus, die ihn unwiderstehlich anzog.
Er näherte sich dem Sessel, er streckte langsam die Hand aus, er berührte das Buch - und im gleichen Augenblick machte etwas in seinem Inneren»klick!«, so als habe sich eine Falle geschlossen. Bastian hatte das dunkle Gefühl, daß mit dieser Berührung etwas Unwiderrufliches begonnen hatte und nun seinen Lauf nehmen würde.
Er hob das Buch hoch und betrachtete es von allen Seiten. Der Einband war aus kupferfarbener Seide und schimmerte, wenn er es hin und her drehte. Bei flüchtigem Durchblättern sah er, daß die Schrift in zwei verschiedenen Farben gedruckt war. Bilder schien es keine zu geben, aber wunderschöne, große Anfangsbuchstaben. Als er den Einband noch einmal genauer betrachtete, entdeckte er darauf zwei Schlangen, eine helle und eine dunkle, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und so ein Oval bildeten. Und in diesem Oval stand in eigentümlich verschlungenen Buchstaben der Titeclass="underline"
Die unendliche Geschichte
Es ist eine rätselhafte Sache um die menschlichen Leidenschaften, und Kindern geht es damit nicht anders als Erwachsenen. Diejenigen, die davon befallen werden, können sie nicht erklären, und diejenigen, die nichts dergleichen je erlebt haben, können sie nicht begreifen. Es gibt Menschen, die setzen ihr Leben aufs Spiel, um einen Berggipfel zu bezwingen. Niemand, nicht einmal sie selbst, könnten wirklich erklären warum. Andere ruinieren sich, um das Herz einer bestimmten Person zu erobern, die nichts von ihnen wissen will. Wieder andere richten sich zugrunde, weil sie den Genüssen des Gaumens nicht widerstehen können - oder denen der Flasche. Manche geben all ihr Hab und Gut hin, um im Glücksspiel zu gewinnen, oder opfern alles einer fixen Idee, die niemals Wirklichkeit werden kann. Einige glauben, nur dann glücklich sein zu können, wenn sie woanders wären, als sie sind, und reisen ihr Leben lang durch die Welt. Und ein paar finden keine Ruhe, ehe sie nicht mächtig geworden sind. Kurzum, es gibt so viele verschiedene Leidenschaften, wie es verschiedene Menschen gibt.
Für Bastian Baltasar Bux waren es die Bücher.
Wer niemals ganze Nachmittage lang mit glühenden Ohren und verstrubbeltem Haar über einem Buch saß und las und las und die Welt um sich her vergaß, nicht mehr merkte, daß er hungrig wurde oder fror -
Wer niemals heimlich beim Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen hat, weil Vater oder Mutter oder sonst irgendeine besorgte Person einem das Licht ausknipste mit der gutgemeinten Begründung, man müsse jetzt schlafen, da man doch morgen so früh aus den Federn sollte -
Wer niemals offen oder im geheimen bitterliche Tränen vergossen hat, weil eine wunderbare Geschichte zu Ende ging und man Abschied nehmen mußte von den Gestalten, mit denen man gemeinsam so viele Abenteuer erlebt hatte, die man liebte und bewunderte, um die man gebangt und für die man gehofft hatte, und ohne deren Gesellschaft einem das Leben leer und sinnlos schien -
Wer nichts von alledem aus eigener Erfahrung kennt, nun, der wird wahrscheinlich nicht begreifen können, was Bastian jetzt tat.
Er starrte auf den Titel des Buches, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Das, genau das war es, wovon er schon oft geträumt und was er sich, seit er von seiner Leidenschaft befallen war, gewünscht hatte: Eine Geschichte, die niemals zu Ende ging! Das Buch aller Bücher!
Er mußte dieses Buch haben, koste es, was es wolle!
Koste es, was es wolle? Das war leicht gesagt! Selbst wenn er mehr als die drei Mark und fünfzehn Pfennig Taschengeld, die er bei sich trug, hätte anbieten können - dieser unfreundliche Herr Koreander hatte ja nur allzu deutlich zu verstehen gegeben, daß er ihm kein einziges Buch verkaufen würde. Und verschenken würde er es schon gar nicht. Die Sache war hoffnungslos.
Und doch wußte Bastian, daß er ohne das Buch nicht weggehen konnte. Jetzt war ihm klar, daß er überhaupt nur wegen dieses Buches hierhergekommen war, es hatte ihn auf geheimnisvolle Art gerufen, weil es zu ihm wollte, weil es eigentlich schon seit immer ihm gehörte!
Bastian lauschte auf das Gemurmel, das nach wie vor aus dem Kabinett zu hören war.
Ehe er sich's versah, hatte er plötzlich ganz schnell das Buch unter seinen Mantel gesteckt und preßte es dort mit beiden Armen an sich. Ohne ein Geräusch zu machen ging er rückwärts auf die Ladentür zu, wobei er die andere Tür, die zum Kabinett, ängstlich im Auge behielt. Vorsichtig drückte er auf die Klinke. Er wollte verhindern, daß die Messingglöckchen Lärm machten, deshalb öffnete er die Glastür nur so weit, daß er sich gerade eben durchzwängen konnte. Leise und behutsam schloß er die Tür von draußen.