»Schnickschnack!« brummte die kleine Alte,»mit Hast erreicht man gar nichts. Setz dich! Iß! Trink! Hopp, wird's bald?«
»Besser, man gibt ihr nach«, flüsterte Engywuck,»hab' so meine Erfahrung mit dem Weib. Wenn sie was will, hilft alles nichts. Müssen außerdem viel besprechen, wir beide.«
Atréju setzte sich also mit untergeschlagenen Beinen vor das winzige Tischchen und langte zu. Bei jedem Schluck und bei jedem Bissen war ihm tatsächlich, als ob goldenes, warmes Leben in seine Adern und Muskeln strömte. Erst jetzt merkte er, wie entkräftet er gewesen war.
Bastian lief das Wasser im Mund zusammen. Ihm war plötzlich, als ob er den Duft der Gnomenmahlzeit roch. Er schnupperte in der Luft herum, aber es war natürlich nur Einbildung gewesen.
Sein Magen knurrte vernehmlich. Er konnte es nicht mehr aushalten. Er holte den Rest seines Pausebrotes und den Apfel aus seiner Mappe und aß beides auf. Danach war ihm etwas besser, obwohl er noch längst nicht satt war.
Dann wurde ihm klar, daß dies seine letzte Mahlzeit gewesen war. Das Wort erschreckte ihn. Er versuchte, nicht mehr daran zu denken.
»Wo hast du nur all die guten Sachen her«, sagte Atréju zur Urgl.
»Ja, Söhnchen«, sagte sie,»man muß weit herumlaufen, weit herum, um die richtigen Kräuter und Pflanzen zu finden. Aber er, dieser Dickschädel von Engywuck, will ja ausgerechnet hier wohnen - wegen seiner wichtigen Studien! Wie man das Essen auf den Tisch bringt, kümmert ihn nicht.«
»Weib«, antwortete Engywuck würdevoll,»was verstehst du davon, was wichtig ist und was nicht. Hebe dich hinweg und laß uns reden!«
Die Urgl verzog sich maulend in die kleine Höhle, wo sie mit allerhand Geschirr herumlärmte.
»Laß sie nur!« raunte Engywuck,»sie ist eine gute alte Haut, muß nur manchmal was zu mümmeln haben. Hör zu, Atréju! Werde dir jetzt einiges über das Südliche Orakel erklären, was du wissen mußt. Ist nicht ganz einfach, bis zur Uyulála vorzudringen. Ziemlich schwierig sogar. Möchte dir aber keinen wissenschaftlichen Vortrag halten. Ist vielleicht besser, wenn du Fragen stellst. Verliere mich leicht ein bißchen in Einzelheiten. Also frag!«
»Gut«, meinte Atréju,»wer oder was also ist die Uyulála?«
»Verflixt!« knurrte Engywuck und funkelte ihn verärgert an,»du fragst so direkt wie meine Alte. Kannst du nicht mit was anderem anfangen?«
Atréju überlegte und fragte dann:
»Dieses große Felsentor mit den Sphinxen, das du mir gezeigt hast - ist das der Eingang?«
»Schon besser!« antwortete Engywuck,»so kommen wir weiter. Das Felsentor ist der Eingang, aber danach kommen noch zwei andere Tore, und erst hinter dem dritten wohnt die Uyulála - wenn man von ihr überhaupt sagen kann, daß sie wohnt.«
»Bist du selbst schon einmal bei ihr gewesen?«
»Wo denkst du hin!« erwiderte Engywuck, schon wieder etwas verstimmt,»arbeite schließlich wissenschaftlich. Habe alle Berichte gesammelt von denen, die drin waren. Sofern sie zurückgekommen sind, versteht sich. Sehr wichtige Arbeit! Kann mir kein persönliches Risiko erlauben. Könnte meine Arbeit beeinflussen.«
»Ich verstehe«, sagte Atréju.»Und was hat es nun mit diesen drei Toren auf sich?«
Engywuck stand auf, verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann auf und ab zu gehen, während er folgendes erklärte:
»Das erste heißt das Große Rätsel Tor. Das zweite heißt das Zauber Spiegel Tor. Und das dritte heißt das Ohne Schlüssel Tor…«
»Seltsam«, unterbrach ihn Atréju,»soweit ich sehen konnte, war hinter dem Felsen tor nichts weiter als eine leere Ebene. Wo sind denn diese anderen Tore?«
»Ruhe!« herrschte ihn Engywuck an,»wenn du dauernd unterbrichst, kann man nichts erklären. Alles sehr schwierig! Die Sache ist so: Das zweite Tor ist erst da, wenn man durch das erste durch ist. Und das dritte erst, wenn man das zweite hinter sich hat. Und die Uyulála erst, wenn man durch das dritte gekommen ist. Vorher ist nichts von allem da. Es ist einfach nicht da, verstehst du?«
Atréju nickte, zog es aber vor zu schweigen, um den Gnom nicht von neuem ärgerlich zu machen.
»Das erste, das Große Rätsel Tor, hast du durch mein Fernrohr gesehen. Auch die zwei Sphinxen. Dieses Tor ist immer offen - versteht sich von selbst. Hat ja gar keine Torflügel. Kann aber trotzdem niemand durch, außer -«, hier streckte Engywuck ein winziges Zeigefingerchen in die Höhe,»- außer die Sphinxen schließen die Augen. Und weißt du, warum? Der Blick einer Sphinx ist was ganz und gar anderes, als der Blick irgendeines anderen Wesens. Wir beide und alle anderen, wir nehmen durch unseren Blick etwas auf. Wir sehen die Welt. Aber eine Sphinx sieht nichts, sie ist in gewissem Sinne blind. Dafür senden ihre Augen etwas aus. Und was ist das, was ihr Blick aussendet? Alle Rätsel der Welt. Deshalb schauen die beiden Sphinxen sich immerfort gegenseitig an. Denn den Blick einer Sphinx kann nur eine andere Sphinx ertragen. Und nun stell dir vor, was aus einem wird, der es einfach wagt, in den Blickwechsel dieser beiden hineinzulaufen! Er erstarrt auf der Stelle und kann sich nicht wieder rühren, ehe er nicht alle Rätsel der Welt gelöst hat. Na, du wirst die Spuren solcher armen Teufel vorfinden, wenn du hinkommst.«
»Aber sagtest du nicht«, warf Atréju ein,»daß sie manchmal ihre Augen schließen? Müssen sie nicht bisweilen schlafen?«
»Schlafen?« Engywuck schüttelte sich vor Kichern.»Du meine Güte, eine Sphinx und schlafen. Nein, wahrhaftig nicht. Bist wirklich ein ahnungsloser Bursche. Ist aber trotzdem nicht ganz verkehrt, deine Frage. Ist sogar genau der Punkt, dem meine Forschung gewidmet ist. Bei manchen Besuchern schließen die Sphinxen ihre Augen und lassen ihn durch. Die Frage, die bis heute aber noch niemand geklärt hat, ist die: Warum gerade den einen und warum nicht den anderen? Ist nämlich keineswegs so, daß sie etwa die Weisen, die Tapferen, die Guten vorbeilassen, und die Dummen, die Feigen oder die Bösewichte ausschließen. Ja, Pustekuchen! Hab's mit eigenen Augen beobachtet, und mehr als einmal, daß sie gerade irgendeinem albernen Schwachkopf oder einem niederträchtigen Halunken den Zutritt erlaubt haben, während die anständigsten und vernünftigsten Leute oft monatelang vergebens warteten und zuletzt unverrichteter Dinge abzogen. Auch ob einer aus Not und Bedrängnis zum Orakel will oder es nur mal so aus Jux versucht, scheint gar keine Rolle zu spielen.«
»Und deine Forschungen«, fragte Atréju,»haben sie keinerlei Anhaltspunkt ergeben?«
Sofort bekam Engywuck wieder seinen zornig funkelnden Blick.
»Hörst du zu oder nicht? Hab' doch eben gesagt, daß niemand die Frage bis heute geklärt hat. Habe natürlich einige Theorien ausgearbeitet im Lauf der Jahre. Dachte zunächst, der entscheidende Punkt, nach dem die Sphinxen urteilen, wären vielleicht bestimmte körperliche Merkmale - Größe, Schönheit, Stärke oder so was. Mußte ich aber bald wieder fallen lassen. Hab' dann versucht, bestimmte Zahlenverhältnisse festzustellen, zum Beispiel, daß von fünfen immer drei ausgeschlossen bleiben, oder daß nur die mit Primzahlen Zutritt bekommen. Ging auch ganz gut, was die Vergangenheit betrifft, nur bei der Vorhersage hat es absolut nicht geklappt. Bin inzwischen der Ansicht, die Entscheidung der Sphinxen ist ganz und gar zufällig und hat überhaupt keinen Sinn. Aber mein Weib behauptet, das wäre eine lästerliche und obendrein unphantásische Meinung und hätte mit Wissenschaft nichts mehr zu tun.«
»Kommst du schon wieder mit deinem Unsinn?« hörte man das Gnomenweibchen aus der Höhle keifen.»Schäm dich! Nur weil dein bißchen Hirn dir im Kopf eingetrocknet ist, meinst du, solche großen Geheimnisse einfach ableugnen zu können, alter Schwachkopf!«