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Er regte sich nicht und wartete.

Nach und nach wurden die Kreise enger, welche die Stimme um Atréju beschrieb, und nun konnte er die Worte verstehen, die sie sang:

»Ach, alles ereignet sich einmal nur, aber einmal muß alles geschehen. Über Berg und Tal, über Feld und Flur werd' ich vergehen, verwehen…«

Atréju drehte sich der Stimme nach, die ruhelos zwischen den Säulen hin und her flog, aber er konnte dort niemand sehen.

»Wer bist du?« rief er.

Und wie ein Echo kam die Stimme zurück:»Wer bist du?«

Atréju dachte nach.

»Wer ich bin?« murmelte er,»ich kann es nicht sagen. Es kommt mir vor, als ob ich es einmal gewußt hätte. Aber ist das denn wichtig?«

Die singende Stimme antwortete:

»Willst du mich fragen insgeheim, sprich im Gedicht mit mir, im Reim, denn was man nicht in Versen spricht, versteh' ich nicht - versteh' ich nicht…«

Atréju war nicht sehr geübt darin, Reime und Verse zu machen, und es schien ihm, daß die Unterhaltung sich wohl einigermaßen schwierig gestalten würde, wenn die Stimme nur verstand, was sich reimte. Er mußte erst eine Weile grübeln, ehe er hervorbrachte:

»Wenn mir die Frage gestattet ist, dann wüßt' ich gerne, wer du bist.«

Und sogleich antwortete die Stimme:

»Nun nehm' ich dich wahr! So versteh' ich dich klar!«

Und dann sang sie aus einer anderen Richtung:

»Ich danke dir, Freund, denn gut ist dein Wille. Du bist mir willkommen als Gast. Ich bin Uyulála, die Stimme der Stille, im Tiefen Geheimnis Palast.«

Atréju fiel auf, daß die Stimme manchmal lauter und manchmal leiser erklang, aber niemals ganz verstummte. Auch wenn sie keine Worte sang, oder wenn er zu ihr sprach, immerfort schwebte ein Ton um ihn her, der andauerte.

Da der Klang sich langsam von ihm entfernt hatte, lief er ihm nach und fragte:

»Sag, Uyulála, hörst du mich noch? Ich kann dich nicht sehen und möchte es doch.«

Die Stimme hauchte an seinem Ohr vorüber:

»Noch nie ist geschehen, daß jemand mich sah. Du kannst mich nicht sehen und doch bin ich da.«

»Also bist du unsichtbar?« fragte er. Aber als keine Antwort kam, erinnerte er sich, daß er es in Gedichtform fragen mußte, und sagte:

»Bist du einfach unsichtbar, oder körperlos sogar?«

Ein leises Klingen war zu hören, das ein Lachen sein konnte oder ein Schluchzen, und dann sang die Stimme:

»Ja und nein und beides nicht, so wie du es meinst. Ich erscheine nicht im Licht, so wie du erscheinst.
Denn mein Leib ist Klang und Ton, hörbar nur allein, diese Stimme selber schon ist mein ganzes Sein.«

Atréju staunte und ging immer weiter hinter dem Klingen her, kreuz und quer durch den Säulenwald. Nach einer Weile hatte er eine neue Frage fertig:

»Habe ich dich recht verstanden? Deine Gestalt ist nur dieses Klingen? Doch wenn du einmal aufhörst zu singen? Bist du dann nicht mehr vorhanden?«

Und dann hörte er, wieder ganz nahe, die Antwort:

»Wenn es zu Ende geht, das Lied, dann wird mit mir geschehen, was mit allen anderen Wesen geschieht, wenn ihre Körper vergehen.
So ist der Lauf der Dinge: Ich lebe, solange ich klinge, doch nicht lange mehr werd' ich bestehen.«

Nun war wieder dieses Schluchzen zu hören und Atréju, der nicht verstand, warum die Uyulála weinte, beeilte sich, zu fragen:

»Warum bist du traurig, sag mir's geschwind! Du bist doch noch jung. Du klingst wie ein Kind.«

Und wieder klang es wie ein Echo zurück:

»Bald verweht mich der Wind. Ich bin nur ein Lied der Klage. Doch höre, die Zeit verrinnt, darum frage! Frage! Was willst du, daß ich dir sage?«

Die Stimme war irgendwo zwischen den Säulen verhallt, und Atréju, der sie nicht mehr hören konnte, drehte horchend den Kopf nach allen Seiten. Kurze Zeit blieb es still, dann kam das Singen aus der Ferne rasch wieder näher, und es klang fast ungeduldig:

»Uyulála ist Antwort. Du mußt sie befragen! Wenn du nicht fragst, so kann sie nichts sagen!«

Atréju rief ihr entgegen:

»Uyulála, hilf mir, ich möchte verstehen: Warum mußt du bald verwehn und vergehen?«
Und die Stimme sang: »Die Kindliche Kaiserin siecht dahin und mit ihr das phantasische Reich. Das Nichts wird verschlingen den Ort, wo ich bin, und bald schon ergeht es mir gleich.
Wir werden verschwinden ins Nirgends und Nie, als wären wir niemals gewesen. Es bedarf eines neuen Namens für sie, nur durch ihn kann sie wieder genesen.«

Atréju antwortete:

»Sag, Uyulála, wer rettet ihr Leben? Wer kann einen neuen Namen ihr geben?«

Die Stimme fuhr fort:

»Höre, höre die Worte mein, auch wenn du sie jetzt nicht verstehst, präge sie tief ins Gedächtnis dir ein, eh du von dannen gehst,
damit du später, zur besseren Stunde, von der Erinnerung Meeresgrunde sie wieder emporhebst ans Tageslicht, unversehrt, so wie es nun klingt. Alles hängt ab davon, ob dir's gelingt oder nicht.«

Eine Weile war nur ein klagender Laut ohne Worte zu hören, dann plötzlich klang es ganz nahe bei Atréju, so als spräche jemand ihm ins Ohr:

»Wer kann der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen geben? Nicht du, noch ich, nicht Elfe, noch Dschinn, von uns rettet keiner ihr Leben,
und keiner erlöst uns alle vom Fluch, durch keinen wird sie gesunden. Wir sind nur Figuren in einem Buch, und vollziehen, wozu wir erfunden.
Nur Träume und Bilder in einer Geschicht', so müssen wir sein, wie wir sind, und Neues erschaffen - wir können es nicht, kein Weiser, kein König, kein Kind.
Doch jenseits Phantásiens gibt es ein Reich, das heißt die Äußere Welt, und die dort wohnen - ja, sie sind reich, um sie ist es anders bestellt!