Erst dann begann er zu rennen.
Die Hefte, die Schulbücher und der Federkasten in seiner Mappe hüpften und klapperten im Takt seiner Schritte. Er bekam Seitenstechen, aber er rannte weiter.
Der Regen lief ihm übers Gesicht und hinten in den Kragen hinein. Kälte und Nässe drangen durch den Mantel, doch Bastian fühlte es nicht. Ihm war heiß, aber nicht nur vom Laufen.
Sein Gewissen, das sich vorher in dem Buchladen nicht gemuckst hatte, war nun plötzlich aufgewacht. All die Gründe, die so überzeugend gewesen waren, erschienen ihm plötzlich völlig unglaubwürdig, sie schmolzen dahin wie Schneemänner im Atem eines feuerspeienden Drachen.
Er hatte gestohlen. Er war ein Dieb!
Was er getan hatte, war sogar schlimmer als gewöhnlicher Diebstahl. Dieses Buch war bestimmt einmalig und unersetzlich. Sicher war es Herrn Koreanders größter Schatz gewesen. Einem Geigenspieler seine einzigartige Violine stehlen oder einem König seine Krone, war noch etwas anderes, als Geld aus einer Kasse nehmen.
Und während er so rannte, preßte er das Buch unter seinem Mantel an sich. Er wollte es nicht verlieren, wie teuer auch immer es ihn zu stehen kommen würde. Es war alles, was er auf dieser Welt noch hatte.
Denn nach Hause konnte er jetzt natürlich nicht mehr.
Er versuchte, sich seinen Vater vorzustellen, wie er in dem großen Zimmer saß, das als Labor eingerichtet war, und arbeitete. Um ihn her lagen Dutzende von Gipsabgüssen menschlicher Gebisse, denn der Vater war Zahntechniker. Bastian hatte sich noch nie überlegt, ob der Vater diese Arbeit eigentlich gern tat. Es kam ihm jetzt zum ersten Mal in den Sinn, aber nun würde er ihn nie mehr danach fragen können.
Wenn er jetzt nach Hause ging, würde der Vater in seinem weißen Kittel aus dem Labor kommen, vielleicht mit einem Gipsgebiß in der Hand, und würde fragen:»Schon zurück?« -»Ja«, würde Bastian sagen. -»Keine Schule heute?« - Er sah das stille, traurige Gesicht seines Vaters vor sich, und er wußte, daß er ihn unmöglich würde anlügen können. Aber die Wahrheit konnte er ihm erst recht nicht sagen. Nein, das einzige, was er tun konnte, war, fortzugehen, irgendwohin, weit weg. Der Vater sollte nie erfahren, daß sein Sohn ein Dieb geworden war. Und vielleicht würde er ja nicht einmal merken, daß Bastian nicht mehr da war. Dieser Gedanke hatte sogar etwas Tröstliches.
Bastian hatte aufgehört zu rennen. Er ging jetzt langsam und sah am Ende der Straße das Schulhaus liegen. Ohne es zu merken, war er seinen gewohnten Schulweg gelaufen. Die Straße kam ihm geradezu menschenleer vor, obwohl da und dort Leute gingen. Aber für einen, der viel zu spät kommt, erscheint die Welt rings um die Schule herum ja immer wie ausgestorben. Und Bastian fühlte bei jedem Schritt, wie die Angst in ihm zunahm. Er hatte sowieso Angst vor der Schule, dem Ort seiner täglichen Niederlagen, Angst vor den Lehrern, die ihm gütlich ins Gewissen redeten oder ihren Ärger an ihm ausließen, Angst vor den anderen Kindern, die sich über ihn lustig machten und keine Gelegenheit ausließen, ihm zu beweisen, wie ungeschickt und wehrlos er war. Die Schule war ihm schon immer vorgekommen wie eine unabsehbar lange Gefängnisstrafe, die dauern würde, bis er erwachsen war, und die er einfach stumm und ergeben absitzen mußte.
Aber als er jetzt durch die hallenden Korridore ging, in denen es nach Bohnerwachs und nassen Mänteln roch, als die lauernde Stille im Haus plötzlich seine Ohren verstopfte wie Wattepfropfen, und als er schließlich vor der Tür seines Klassenzimmers stand, die in der gleichen Farbe von altem Spinat gestrichen war wie die Wände ringsum, da wurde ihm klar, daß er auch hier von nun an nichts mehr verloren hatte. Er mußte ja doch fort. Dann konnte er auch gleich weggehen.
Aber wohin?
Bastian hatte in seinen Büchern Geschichten gelesen von Jungen, die sich auf einem Schiff anheuern ließen und in die weite Welt hinausfuhren, um ihr Glück zu machen. Manche wurden auch Piraten oder Helden, andere kehrten viele Jahre später als reiche Männer in ihre Heimat zurück, ohne daß jemand erriet, wer sie waren.
Aber so etwas traute Bastian sich nicht zu. Er konnte sich auch nicht vorstellen, daß man ihn als Schiffsjungen überhaupt annehmen würde. Außerdem hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er in eine Hafenstadt kommen sollte, wo es geeignete Schiffe für solche kühnen Unternehmungen gab.
Wohin also?
Und plötzlich fiel ihm der richtige Ort ein, der einzige Ort, wo man ihn - vorläufig wenigstens - nicht suchen und nicht finden würde.
Der Speicher war groß und dunkel. Es roch nach Staub und Mottenkugeln. Kein Laut war zu hören, außer dem leisen Trommeln des Regens auf das Kupferblech des riesigen Daches. Altersschwarze mächtige Balken ragten in gleichmäßigen Abständen aus dem Dielenboden, trafen sich weiter oben mit anderen Balken des Dachstuhls und verloren sich irgendwo in der Dunkelheit. Da und dort hingen Spinnweben, groß wie Hängematten, und bewegten sich leise und geisterhaft im Luftzug hin und her. Aus der Höhe, wo eine Dachluke war, drang milchiger Lichtschein herab.
Das einzig Lebendige in dieser Umgebung, in der die Zeit still zu stehen schien, war eine kleine Maus, die über den Dielenboden hoppelte und im Staub winzig kleine Fußspuren hinterließ. Dort, wo sie ihr Schwänzchen nachzog, lief zwischen den Pfotenabdrücken ein dünner Strich. Plötzlich richtete sie sich auf und horchte. Und dann verschwand sie - husch! - in einem Loch zwischen den Dielen.
Das Geräusch eines Schlüssels in einem großen Schloß war zu hören.
Langsam und knarrend öffnete sich die Speichertür, für einen Augenblick fiel ein langer Lichtstreifen durch den Raum. Bastian schlüpfte herein, dann schloß sich die Tür wieder knarrend und fiel zu. Er steckte einen großen Schlüssel von innen ins Schloß und drehte ihn herum. Dann schob er sogar noch einen Riegel vor und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Nun war er tatsächlich unauffindbar. Hier würde ihn niemand suchen. Hierher kam nur äußerst selten jemand - das wußte er ziemlich sicher -, und selbst wenn der Zufall es gewollt hätte, daß ausgerechnet heute oder morgen jemand sich hier zu schaffen machen mußte, so würde der Betreffende die Tür verschlossen finden. Und der Schlüssel war nicht mehr da. Und falls sie die Tür doch irgendwie aufkriegen würden, bliebe für Bastian noch immer genügend Zeit, sich zwischen dem Gerümpel zu verstecken.
Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Er kannte diesen Ort. Vor einem halben Jahr hatte der Hausmeister der Schule ihn beordert, ihm beim Transport eines großen Wäschekorbes voll alter Formulare und Schriftstücke, die auf den Speicher sollten, zu helfen. Damals hatte er auch gesehen, wo der Schlüssel für die Speichertür aufbewahrt wurde: In einem Wandschränkchen, das neben dem obersten Treppenabsatz hing. Er hatte seither nie mehr daran gedacht. Aber jetzt hatte er sich wieder daran erinnert.
Bastian begann zu frieren, denn sein Mantel war durchnäßt, und es war sehr kalt hier oben. Zunächst mußte er eine Stelle suchen, wo er es sich ein bißchen gemütlicher machen konnte. Schließlich würde er ja lange Zeit hier bleiben müssen. Wie lang - darüber machte er sich vorerst noch keine Gedanken, und auch nicht darüber, daß er schon sehr bald Hunger und Durst bekommen würde.