Fräulein Anna kam dreimal in der Woche, erledigte Schreibarbeiten für den Vater und brachte den Haushalt in Ordnung. Meistens kochte oder backte sie auch etwas. Sie war eine stämmige Person, die unbekümmert laut redete und lachte. Der Vater war höflich zu ihr, aber im übrigen schien er sie kaum wahrzunehmen. Sehr selten brachte sie es fertig, daß über sein bekümmertes Gesicht ein Lächeln huschte. Wenn sie da war, wurde es ein bißchen heller in der Wohnung.
Fräulein Anna hatte eine kleine Tochter, obwohl sie nicht verheiratet war. Das Mädchen hieß Christa, war drei Jahre jünger als Bastian und hatte wunderschöne blonde Haare. Früher hatte Fräulein Anna ihr Töchterchen fast immer mitgebracht. Christa war sehr schüchtern. Wenn Bastian ihr stundenlang seine Geschichten erzählt hatte, war sie ganz still dagesessen und hatte ihm mit großen Augen zugehört. Sie bewunderte Bastian, und er mochte sie sehr gern.
Aber vor einem Jahr hatte Fräulein Anna ihr Töchterchen in ein Landschulheim gegeben. Und nun sahen sie sich fast nie mehr.
Bastian hatte es Fräulein Anna ziemlich übelgenommen und alle ihre Erklärungen, warum es so besser für Christa wäre, hatten ihn nicht überzeugt.
Aber ihrem Apfelstrudel konnte er trotzdem niemals widerstehen.
Er fragte sich sorgenvoll, wie lang ein Mensch es überhaupt aushalten konnte, ohne zu essen. Drei Tage? Zwei? Vielleicht bekam man schon nach vierundzwanzig Stunden Wahnvorstellungen? Bastian rechnete an den Fingern nach, wie lang er nun schon hier war. Es waren schon zehn Stunden oder sogar etwas mehr. Wenn er nur sein Pausebrot oder wenigstens den Apfel noch aufgehoben hätte!
Im flackernden Kerzenschein sahen die gläsernen Augen des Fuchses, der Eule und des riesigen Steinadlers fast lebendig aus. Ihre Schatten regten sich groß an der Speicherwand.
Die Turmuhr schlug sieben Mal.
Atréju ging wieder auf die Straße hinaus und wanderte ziellos in der Stadt umher. Sie schien sehr groß. Er kam durch Viertel, in denen alle Häuser klein und niedrig waren, so daß er im Stehen die Dachtraufe berühren konnte, und durch andere, in denen vielstöckige Paläste standen mit figurengeschmückten Fassaden. Doch alle diese Figuren stellten Totengerippe oder Dämonengestalten dar, die mit fratzenhaften Gesichtern auf den einsamen Wanderer hinunterstarrten.
Und dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen.
Irgendwo ganz in der Nähe erklang ein rauhes, heiseres Heulen, das so verzweifelt, so trostlos klang, daß es Atréju das Herz zerschnitt. Alle Verlassenheit, alle Verdammnis der Geschöpfe der Finsternis lag in diesem Klagelaut, der nicht enden wollte und von den Wänden immer fernerer Gebäude als Echo zurückgeworfen wurde, bis er schließlich klang wie das Geheul eines weit verstreuten Rudels riesiger Wölfe.
Atréju ging dem Ton nach, der immer leiser und leiser wurde und zuletzt in einem rauhen Schluchzen erstarb. Aber er mußte einige Zeit suchen. Er ging durch eine Einfahrt, kam in einen engen, lichtlosen Hof, ging durch einen Torbogen und gelangte zuletzt in einen Hinterhof, der feucht und schmutzig war. Und dort lag vor einem Mauerloch angekettet ein riesiger, halb verhungerter Werwolf. Die Rippen unter seinem räudigen Fell waren einzeln zu zählen, die Wirbel seines Rückgrats standen hervor wie die Zähne einer Säge, und die Zunge hing ihm lang aus dem halbgeöffneten Rachen.
Atréju näherte sich ihm leise. Als der Werwolf ihn bemerkte, hob er mit einem Ruck den mächtigen Kopf. In seinen Augen glomm ein grünes Licht auf.
Eine Weile musterten sich die beiden gegenseitig, ohne ein Wort, ohne einen Laut. Endlich ließ der Werwolf ein leises, überaus gefährliches Grollen hören:
»Geh fort! Laß mich in Ruhe sterben!«
Atréju rührte sich nicht. Ebenso leise antwortete er:
»Ich habe deinen Ruf gehört, darum bin ich gekommen.«
Der Kopf des Werwolf s sank zurück.
»Ich habe niemand gerufen«, knurrte er,»es war meine eigene Totenklage.«
»Wer bist du?« fragte Atréju und trat noch einen Schritt näher.
»Ich bin Gmork, der Werwolf.«
»Warum liegst du hier angekettet?«
»Sie haben mich vergessen, als sie fortgingen.«
»Wer - sie?«
»Die, die mich an diese Kette gelegt haben.«
»Und wo sind sie hingegangen?«
Gmork antwortete nicht. Er sah Atréju aus halbgeschlossenen Augenlauernd an. Nach einer längeren Stille fragte er:
»Du gehörst nicht hierher, kleiner Fremdling, nicht in diese Stadt, nicht in dieses Land. Was suchst du hier?«
Atréju senkte den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Wie heißt diese Stadt?«
»Es ist die Hauptstadt des berühmtesten Landes in ganz Phantásien«, sagte Gmork.»Von keinem anderen Land und keiner anderen Stadt gibt es so viele Geschichten. Auch du hast gewiß schon von Spukstadt im Gelichterland gehört, nicht wahr?«
Atréju nickte langsam.
Gmork hatte den Jungen nicht aus dem Auge gelassen. Es wunderte ihn, daß dieser griinhäutige Knabe ihn so ruhig aus seinen großen schwarzen Augen ansah und keinerlei Furcht zeigte.
»Und du - wer bist du?« fragte er.
Atréju überlegte eine Weile, ehe er antwortete:
»Ich bin niemand.«
»Was soll das heißen?«
»Es soll heißen, daß ich einmal einen Namen hatte. Er soll nicht mehr genannt werden. Darum bin ich niemand.«
Der Werwolf zog ein wenig die Lefzen hoch und ließ sein schauerliches Gebiß sehen, was wohl ein Lächeln andeuten sollte. Er verstand sich auf Seelenfinsternisse aller Art und fühlte, daß er hier auf irgendeine Weise einen ebenbürtigen Partner vor sich hatte.
»Wenn das so ist«, sagte er mit heiserer Stimme,»dann hat Niemand mich gehört, und Niemand ist zu mir gekommen, und Niemand redet mit mir in meiner letzten Stunde.«
Wieder nickte Atréju. Dann fragte er:
»Kann Niemand dich von der Kette losmachen?«
Das grüne Licht in den Augen des Werwolf s flackerte. Er begann zu hecheln und sich die Lefzen zu lecken.
»Du würdest das wirklich tun?« stieß er hervor,»du würdest einen hungrigen Werwolf freilassen? Weißt du nicht, was das heißt? Niemand wäre vor mir sicher!«
»Ja«, sagte Atréju,»und ich bin Niemand. Warum sollte ich mich vor dir fürchten?«
Er wollte sich Gmork nähern, doch der ließ abermals jenes tiefe, schreckliche Grollen hören. Der Junge wich zurück.
»Willst du nicht, daß ich dich befreie?« fragte er.
Der Werwolf schien auf einmal sehr müde.
»Das kannst du nicht. Aber wenn du in meine Reichweite kommst, muß ich dich in Stücke reißen, Söhnchen. Das würde mein Ende nur ein wenig hinausschieben, um ein oder zwei Stunden. Also bleib mir vom Leib und laß mich in Ruhe krepieren.«
Atréju überlegte.
»Vielleicht«, meinte er schließlich,»finde ich etwas zu fressen für dich. Ich könnte suchen gehen in der Stadt.«
Gmork schlug langsam wieder die Augen auf und sah den Jungen an. Das grüne Feuer in seinem Blick war erloschen.
»Geh zur Hölle, du kleiner Narr! Willst du mich am Leben halten, bis das Nichts hier ist?«
»Ich dachte«, stammelte Atréju,»wenn ich dir Futter gebracht hätte und du satt wärst, dann könnte ich mich dir vielleicht nähern, um dir die Kette abzunehmen…«
Gmork knirschte mit den Zähnen.
»Wenn es eine gewöhnliche Kette wäre, die mich hier festhält, glaubst du, ich hätte sie nicht schon längst selbst zerbissen?«