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Gmork hob den Kopf. Der Junge war einen Schritt zurückgetreten und hatte sich hoch aufgerichtet.

»Ich bin es«, sagte er,»ich bin Atréju.«

Ein Zucken lief durch den abgemagerten Leib des Werwolf s. Es wiederholte sich und wurde stärker und stärker. Dann kam ein Geräusch aus seiner Kehle, das wie keuchendes Husten klang, es wurde immer lauter und rasselnder und steigerte sich zu einem Brüllen, das von allen Hauswänden zurückschallte. Der Werwolf lachte!

Es war das entsetzlichste Geräusch, das Atréju jemals gehört hatte, und nie wieder hörte er etwas Ähnliches.

Dann war es plötzlich zu Ende.

Gmork war tot.

Atréju stand lange reglos. Schließlich näherte er sich dem toten Werwolf - er wußte selbst nicht, warum - beugte sich über dessen Kopf und berührte mit der Hand das struppige, schwarze Fell. Und im gleichen Augenblick, schneller als jeder Gedanke, hatten Gmorks Zähne zugeschnappt und sich in Atréjus Bein festgebissen. Noch über den Tod hinaus war das Böse in ihm mächtig.

Verzweifelt versuchte Atréju das Gebiß aufzubrechen. Es war vergebens. Wie mit stählernen Schrauben festgehalten, saßen die riesigen Zähne in seinem Fleisch. Atréju sank neben dem Leichnam des Werwolfs auf den schmutzigen Boden nieder.

Und Schritt für Schritt, unaufhaltsam und lautlos, drang das Nichts von allen Seiten durch die schwarze hohe Mauer, die die Stadt umgab.

10.

Der Flug zum Elfenbeinturm

Jener Augenblick, in dem Atréju durch das düstere Stadttor von Spukstadt getreten war und seine Wanderung durch die krummen Gassen begonnen hatte, die dann so verhängnisvoll in jenem schmutzigen Hinterhof enden sollte, hatte dem weißen Glücksdrachen Fuchur eine höchst erstaunliche Entdeckung beschert.

Immer noch auf der unermüdlichen Suche nach seinem kleinen Herren und Freund war er sehr hoch in die Wolken und Nebelfetzen des Himmels hinaufgestiegen und hielt Umschau. Nach allen Seiten hin dehnte sich das Meer, das sich nur langsam beruhigte nach dem gewaltigen Sturm, der es aufgewühlt hatte bis zum Grund. Und plötzlich sah Fuchur in weiter Ferne etwas, das er sich nicht erklären konnte. Es war wie ein goldener Lichtstrahl, der in gleichmäßigen Abständen aufblinkte und wieder erlosch, aufblinkte und wieder erlosch. Und dieser Lichtstrahl schien genau auf ihn, Fuchur, gerichtet zu sein. So schnell er konnte näherte er sich der Stelle, und als er schließlich über ihr schwebte, mußte er feststellen, daß dieses Blinkzeichen aus den Tiefen des Wassers, vielleicht gar vom Meeresgrund ausging.

Glücksdrachen - das wurde ja schon früher gesagt - sind Geschöpfe aus Luft und Feuer. Das nasse Element ist ihnen nicht nur fremd, sondern auch durchaus gefährlich. Sie können im Wasser regelrecht erlöschen wie eine Flamme - falls sie nicht vorher schon ersticken, denn sie atmen ununterbrochen Luft mit ihrem ganzen Körper durch ihre hunderttausend perlmutterfarbenen Schuppen. Sie ernähren sich auch gleichzeitig von Luft und Wärme, und andere Nahrung ist ihnen nicht vonnöten, aber ohne Luft und Wärme können sie nur sehr kurze Zeit leben.

Fuchur wußte nicht, was er tun sollte. Er wußte ja nicht einmal, was dieses seltsame Blinken dort unten in den Meerestiefen war und ob es überhaupt etwas mit Atréju zu tun hatte.

Doch er überlegte nicht lang. Er schoß hoch in die Luft hinauf, dann drehte er sich mit dem Kopf nach unten, legte die Pranken dicht an den Leib, den er steif und gerade hielt wie eine Stange und ließ sich in die Tiefe stürzen. Mit einem gewaltigen Platsch, der das Wasser zu einer riesigen Fontäne aufspritzen ließ, tauchte er ins Meer. Zunächst verlor er rast das Bewußtsein von dem Aufprall, aber dann zwang er sich, seine rubinroten Augen zu öffnen. Jetzt sah er das Blinken ganz nahe vor sich, nur ein paar seiner eigenen Körperlängen in der Tiefe. Das Wasser spülte um seinen Leib und begann Luftperlen zu bilden wie in einem Tiegel, ehe es zu kochen beginnt. Gleichzeitig fühlte er, wie er abkühlte und immer schwächer wurde. Mit den letzten Kräften, die ihm verblieben, zwang er sich, noch tiefer zu tauchen - und nun sah er die Lichtquelle zum Greifen nahe. Es war AURYN, der Glanz! Das Amulett war glücklicherweise mit der Kette an einem Korallenast hängen geblieben, der aus der Wand einer Felsenschlucht herausragte - sonst wäre das Kleinod in eine bodenlose Tiefe hinabgesunken.

Fuchur griff danach, machte es los und legte sich die Kette um den Hals, um es nicht zu verlieren - denn er fühlte, daß er gleich bewußtlos werden würde.

Als er wieder zu sich kam, konnte er sich zunächst kaum zurechtfinden, denn zu seiner höchsten Verwunderung flog er jetzt wieder über dem Meer durch die Lüfte dahin. Er flog mit großer Geschwindigkeit in eine ganz bestimmte Richtung, viel schneller, als seine erschöpften Kräfte es zuließen. Er versuchte, etwas langsamer zu fliegen, mußte aber feststellen, daß sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Ein anderer, sehr viel mächtigerer Wille hatte von seinem Leib Besitz ergriffen und lenkte ihn nun. Und dieser Wille ging von AURYN aus, das er an der Kette um den Hals trug.

Der Tag neigte sich schon, und es wurde Abend, als Fuchur endlich in der Ferne einen Meeresstrand erblickte. Vom Land dahinter war nicht viel zu sehen, es schien im Nebel zu liegen. Als er noch näher kam, entdeckte er, daß der größte Teil des Landes schon von jenem Nichts verschlungen war, das den Augen so wehtat, weil es einem das Gefühl gab, blind zu sein.

Hier wäre Fuchur, hätte er aus eigenem Willen entscheiden können, wahrscheinlich umgekehrt. Aber die geheimnisvolle Kraft des Kleinods zwang ihn, geradeaus weiterzufliegen. Und bald wußte er auch warum, denn er entdeckte mitten in diesem endlosen Nichts plötzlich eine kleine Insel, die sich noch hielt, eine Insel aus spitzgiebeligen Häusern und schiefen Türmen. Fuchur ahnte, wen er dort finden würde, und nun war es nicht mehr nur der mächtige Wille, der aus dem Amulett auf ihn wirkte, sondern auch sein eigener, der ihn auf dieses Ziel zufliegen ließ.

In dem lichtlosen Hinterhof, in welchem Atréju neben dem toten Werwolf lag, war es schon fast dunkel. Das graue Dämmerlicht, das in den engen Häuserschacht hinuntertropfte, reichte kaum noch aus, um den hellen Leib des Jungen von dem schwarzen Fell des Ungeheuers zu unterscheiden. Und je finsterer es wurde, desto mehr sahen sie beide wie eins aus.

Atréju hatte längst schon alle Versuche aufgegeben, sich aus dem stählernen Schraubstock des Wolfsgebisses zu befreien. Er war in einem halb bewußtlosen Zustand, in dem er wieder den Purpurbüffel im Gräsernen Meer vor sich sah, den er nicht erlegt hatte. Manchmal rief er nach den anderen Kindern, seinen Jagdgefährten, die nun wohl alle schon richtige Jäger waren. Aber niemand antwortete ihm. Nur der reglose riesige Büffel stand da und sah ihn an. Atréju rief nach Artax, seinem Pferdchen. Aber es kam nicht, und auch sein helles Wiehern war nirgends zu hören. Er rief nach der Kindlichen Kaiserin, aber vergebens. Er konnte ihr nichts mehr erklären. Er war kein Jäger geworden, er war kein Bote mehr, er war niemand.