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Atréju hatte sich ergeben.

Aber dann fühlte er noch etwas anderes: Das Nichts! Es mußte nun schon sehr nahe sein. Atréju fühlte wieder diesen schrecklichen Sog, der wie ein Schwindelgefühl war. Er richtete sich auf und zerrte stöhnend an seinem Bein. Aber die Zähne ließen ihn nicht los.

Und in diesem Fall war es sein Glück. Denn hätten Gmorks Zähne ihn nicht festgehalten, wäre Fuchur trotz allem zu spät gekommen.

So aber hörte Atréju plötzlich des Glücksdrachen bronzene Stimme über sich am Himmeclass="underline"

»Atréju! Bist du hier? Atréju!«

»Fuchur!« rief Atréju. Und dann legte er beide Hände als Trichter vor den Mund und schrie nach oben:

»Hier bin ich. Fuchur! Fuchur! Hilf mir! Ich bin hier!«

Und er schrie es immer wieder.

Dann sah er Fuchurs weißen züngelnden Leib wie einen lebenden Blitz durch das kleine verlöschende Stückchen Himmel fahren, zuerst sehr fern, sehr hoch droben, dann ein zweites Mal schon viel näher. Atréju schrie und schrie, und der Glücksdrache antwortete mit seiner Glockenstimme. Und schließlich hatte der da oben den dort unten erspäht, klein wie ein armseliges Käferchen in einem dunklen Loch.

Fuchur setzte zur Landung an, aber der Hinterhof war eng, es war schon fast Nacht, und der Drache riß beim Herunterfahren einen der spitzigen Hausgiebel ein. Mit Donnergetöse krachte das Balkenwerk des Dachstuhls zusammen. Fuchur fühlte einen schneidenden Schmerz, er hatte sich an dem scharfen Dachfirst eine schwere Wunde in den Leib gerissen. Es wurde keine seiner üblichen eleganten Landungen, er fiel in den Hof hinunter und schlug hart neben Atréju und dem toten Gmork auf dem nassen, schmutzigen Boden auf.

Er schüttelte sich, nieste wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und sagte:»Endlich! Hier steckst du also! Da bin ich wohl gerade noch rechtzeitig gekommen.«

Atréju sagte nichts. Er hatte seine Arme um Fuchurs Hals geschlungen und vergrub sein Gesicht in dessen silberweißer Mähne.

»Komm!« forderte ihn Fuchur auf,»setz dich auf meinen Rücken! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Atréju schüttelte nur den Kopf. Nun erst sah Fuchur, daß Atréjus Bein im Rachen des Werwolfs steckte.

»Das werden wir gleich haben«, meinte er und rollte seine rubinroten Augenbälle,»mach dir keine Sorgen!«

Er griff mit beiden Pranken zu und versuchte, das Gebiß Gmorks aufzubrechen. Doch die Zähne wichen um keinen Millimeter auseinander.

Fuchur keuchte und fauchte vor Anstrengung, aber es half nichts. Und sicher wäre ihm die Befreiung seines kleinen Freundes nicht gelungen, wenn ihm nicht das Glück zu Hilfe gekommen wäre. Aber Glücksdrachen haben eben Glück und mit ihnen auch die, denen sie gut sind.

Als Fuchur nämlich erschöpft innehielt und sich über Gmorks Kopf beugte, um in der Dunkelheit besser zu sehen, was man tun könne, geschah es, daß das Amulett der Kindlichen Kaiserin, das an der Kette um Fuchurs Hals hing, sich auf die Stirn des toten Werwolfs legte. Und im gleichen Augenblick öffnete sich das Gebiß und gab Atréjus Bein frei.

»He!« rief Fuchur,»hast du das gesehen?«

Atréju antwortete nicht.

»Was ist los?« fragte Fuchur,»wo bist du, Atréju?«

Er tastete in der Finsternis nach seinem Freund, aber der war nicht mehr da. Und während er versuchte, mit seinen rotglühenden Augen das nächtliche Dunkel zu durchdringen, begann er selbst zu fühlen, was Atréju von ihm fortgerissen hatte, kaum daß er frei war: Das immer näher kommende Nichts. Aber AURYN schützte ihn vor dem Sog.

Atréju wehrte sich vergeblich. Es war stärker als sein eigener kleiner Wille. Er schlug um sich, er kämpfte und strampelte, aber seine Glieder gehorchten nicht ihm, sondern jenem unwiderstehlichen Sog. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der endgültigen Vernichtung.

In diesem Augenblick fuhr Fuchur wie ein züngelnder, weißer Blitz über ihn hin und packte ihn an seinem langen, blauschwarzen Haarschopf, riß ihn in die Höhe und brauste mit ihm in den nachtschwarzen Himmel empor.

Die Turmuhr schlug neun.

Keiner der beiden, Fuchur nicht und nicht Atréju, konnte später sagen, wie lang dieser Flug durch die völlige Finsternis dauerte, ob es wirklich nur eine Nacht war. Vielleicht hatte auch alle Zeit für sie aufgehört, und sie hingen reglos in einer grenzenlosen Dunkelheit. Nicht nur für Atréju war es die längste Nacht, die er je erlebt hatte, sondern auch für Fuchur, der doch viel, viel älter war.

Aber auch die längste und dunkelste Nacht geht einmal vorüber. Und als der fahle Morgen dämmerte, erblickten die beiden fern am Horizont den Elfenbeinturm.

Hier ist es wohl unerläßlich, einen Augenblick innezuhalten, um eine Besonderheit der phantásischen Geographie zu erklären. Länder und Meere, Gebirge und Flußläufe liegen dort nicht in derselben Art fest wie in der Menschenwelt. Es wäre deshalb zum Beispiel ganz unmöglich, eine Landkarte von Phantásien zu zeichnen. Es ist dort niemals mit Sicherheit vorauszusehen, welches Land an welches andere angrenzt. Sogar die Himmelsrichtungen wechseln je nach der Gegend, in der man sich gerade befindet. Sommer und Winter, Tag und Nacht folgen in jeder Landschaft anderen Gesetzen. Man kann aus einer sonnendurchglühten Wüste kommen und gleich daneben in arktische Schneefelder geraten. In dieser Welt gibt es keine meßbare äußere Entfernung, und so haben die Worte»nah« oder»weit« eine andere Bedeutung. Alle diese Dinge hängen ab vom Seelenzustand und vom Willen dessen, der einen bestimmten Weg zurücklegt. Da Phantásien grenzenlos ist, kann sein Mittelpunkt überall sein - oder besser gesagt, er ist von überall her gleich nah oder fern. Es hängt ganz von demjenigen ab, der zum Mittelpunkt kommen will. Und dieses innerste Zentrum Phantásiens ist eben der Elfenbeinturm.

Atréju fand sich zu seiner Verwunderung auf dem Rücken des Glücksdrachen sitzend, ohne sich erinnern zu können, wie er dort hinaufgelangt war. Er wußte nur noch, daß Fuchur ihn am Haarschopf in die Höhe gerissen hatte. Als er seinen Mantel, der hinter ihm dreinflatterte, fröstelnd um sich zog, bemerkte er, daß dieser alle Farbe verloren hatte und grau geworden war. Ebenso war es mit seiner Haut und seinem Haar. Und nun sah er im zunehmenden Licht des Morgens, daß es sich auch mit Fuchur nicht anders verhielt. Der Drache glich nur noch einem grauen Nebelstreifen und war schon fast ebenso unwirklich. Sie beide waren dem Nichts zu nahe gekommen.

»Atréju, mein kleiner Herr«, hörte er den Drachen leise sagen,»schmerzt deine Wunde sehr?«

»Nein«, antwortete Atréju,»ich fühle nichts mehr.«

»Hast du Fieber?«

»Nein, Fuchur, ich glaube nicht. Warum fragst du?«

»Ich habe gespürt, daß du zitterst«, erwiderte der Drache,»was auf der Welt kann Atréju jetzt noch zittern machen?«

Atréju schwieg eine Weile, ehe er antwortete:

»Wir werden bald angelangt sein. Dann muß ich der Kindlichen Kaiserin sagen, daß es keine Rettung mehr gibt. Von allem, was ich tun mußte, ist dies das Schwerste.«