Atréju ließ den Kopf auf die Arme sinken.
Niemand, der je dort hinaufgelangt ist und noch hinauf gelangen wird, kann sagen, wie er dies letzte Stück Wegs zurückgelegt hat. Es muß einem geschenkt werden.
Atréju stand plötzlich vor der Pforte, die in den Pavillon führte. Er trat ein - und nun sah er sich von Angesicht zu Angesicht der Goldäugigen Gebieterin der Wünsche gegenüber.
Sie saß, von vielen Kissen gestützt, auf einem weichen, runden Polster in der Mitte der Blütenkuppel und blickte ihm entgegen. Sie wirkte unendlich zart und kostbar. Wie krank sie war, konnte Atréju an der Blässe ihres Gesichts sehen, das fast durchsichtig schien. Ihre mandelförmigen Augen hatten die Farbe von dunklem Gold. Sie verrieten keinerlei Besorgnis oder Unruhe. Sie lächelte. Ihre schmale, kleine Gestalt war in ein weites, seidenes Gewand gehüllt, das so weiß leuchtete, daß selbst die Magnolien-Blätter dagegen dunkel erschienen. Sie sah aus wie ein unbeschreiblich schönes kleines Mädchen von höchstens zehn Jahren, aber ihr langes Haar, das glatt gekämmt über ihre Schultern und ihren Rücken auf das Sitz-Polster herabfiel - war weiß wie Schnee.
Bastian erschrak.
In diesem Augenblick war ihm etwas geschehen, das er noch nie erlebt hatte.
Bis jetzt hatte er sich alles, was da in der Unendlichen Geschichte erzählte wurde, ganz deutlich vorstellen können. Einige seltsame Dinge waren ja allerdings beim Lesen dieses Buches vorgekommen, das war nicht zu leugnen, aber sicherlich konnte man sie irgendwie erklären. Er hatte sich Atréju, wie er auf dem Glücksdrachen ritt, und das Labyrinth und den Elfenbeinturm so deutlich wie möglich ausgemalt. Aber bis zu diesem Augenblick waren es eben doch bloß seine eigenen Vorstellungen gewesen.
Als er jedoch zu der Stelle kam, wo von der Kindlichen Kaiserin die Rede war, da hatte er für den Bruchteil einer Sekunde - nur so lang, wie das Zucken eines Blitzes dauert - ihr Gesicht vor sich gesehen. Und zwar nicht nur in seinen Gedanken, sondern mit seinen Augen! Es war keine Einbildung gewesen, dessen war Bastian ganz sicher. Er hatte sogar Einzelheiten wahrgenommen, die in der Beschreibung überhaupt nicht vorkamen, zum Beispiel ihre Augenbrauen, die sich als zwei feine, wie mit Tusche gemalte Bögen über ihren goldfarbenen Augen wölbten - oder daß sie seltsam langgezogene Ohrläppchen hatte - oder die besondere Neigung ihres Kopfes auf dem zarten Hals. Bastian wußte mit Sicherheit, daß er nie in seinem Leben etwas Schöneres gesehen hatte als dieses Gesicht. Und im gleichen Augenblick hatte er auch gewußt, wie sie hieß: Mondenkind. Es gab überhaupt nicht den geringsten Zweifel, daß dies ihr Name war.
Und Mondenkind hatte ihn angeblickt - ihn, Bastian Balthasar Bux!
Sie hatte ihn angeblickt mit einem Ausdruck, den er sich nicht zu deuten wußte. War auch sie überrascht gewesen? Hatte ihr Blick eine Bitte enthalten? Oder Sehnsucht? Oder - ja, was nur?
Er versuchte, sich Mondenkinds Augen in Erinnerung zu rufen, aber es gelang ihm nicht mehr.
Nur eines wußte er sicher: Dieser Blick hatte ihn durch seine eigenen Augen hindurch, den Hals hinunter mitten ins Herz getroffen. Er fühlte noch jetzt die glühende Spur, die er auf diesem Weg zurückgelassen hatte. Und er fühlte, daß dieser Blick nun in seinem Herzen lag und leuchtete wie ein geheimnisvoller Schatz. Und das tat auf eine seltsame und zugleich wunderbare Art weh.
Selbst wenn Bastian gewollt hätte, so hätte er sich nicht mehr gegen das wehren können, was da mit ihm geschehen war. Aber er wollte es nicht, o nein! Im Gegenteil, um nichts in der Welt hätte er diesen Schatz wieder hergegeben. Er wollte nur noch eines: weiterlesen, um wieder bei Mondenkind zu sein, um sie wiederzusehen.
Er ahnte nicht, daß er sich damit nun unwiderruflich auf das ungewöhnlichste und wohl auch gefährlichste Abenteuer einließ. Aber auch wenn er es geahnt hätte - es wäre ganz gewiß kein Grund für ihn gewesen, das Buch zuzuklappen und wegzulegen und nie wieder anzurühren.
Mit zitterndem Finger suchte er die Stelle, wo er aufgehört hatte, und fuhr fort zu lesen.
Die Turmuhr schlug zehn.
11.
Die Kindliche Kaiserin
Keines Wortes mächtig stand Atréju da und blickte auf die Kindliche Kaiserin. Er wußte nicht, wie er beginnen, nicht, wie er sich verhalten sollte. Oft hatte er versucht, sich diesen Augenblick vorzustellen, hatte sich Worte zurechtgelegt, aber all das war plötzlich in seinem Kopf ausgelöscht.
Schließlich lächelte sie ihm zu und sagte mit einer Stimme, die so leise und zart klang wie die eines kleinen Vogels, der im Schlaf singt:
»Du bist zurückgekehrt von der Großen Suche, Atréju.«
»Ja«, brachte Atréju heraus und senkte den Kopf.
»Grau ist dein schöner Mantel geworden«, fuhr sie nach einer kleinen Stille fort,»grau dein Haar und deine Haut wie Stein. Aber alles soll nun wieder werden wie früher und noch schöner. Du wirst sehen.«
Atréjus Kehle war wie zugeschnürt. Er schüttelte nur kaum merklich den Kopf. Dann hörte er die zarte Stimme sagen:
»Du hast meinen Auftrag erfüllt…«
Atréju wußte nicht, ob diese Worte als Frage gemeint waren. Er wagte nicht aufzublicken, um es aus ihrer Miene zu lesen. Langsam griff er nach der Kette mit dem goldenen Amulett und nahm sie von seinem Hals. Mit ausgestreckter Hand hielt er sie der Kindlichen Kaiserin hin, den Blick immer noch zu Boden gesenkt. Er versuchte, sich auf ein Knie niederzulassen, so wie es die Boten in den Erzählungen und Liedern machten, die er in den Zeltlagern seiner Heimat gehört hatte, aber sein verwundetes Bein versagte, und er fiel der Kindlichen Kaiserin vor die Füße und blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen.
Sie beugte sich vor, hob AURYN auf, und während sie die Kette durch ihre weißen Finger gleiten ließ, sagte sie:
»Du hast deine Sache gut gemacht. Ich bin sehr zufrieden mit dir.«
»Nein!« stieß Atréju fast wild hervor,»es war alles umsonst. Es gibt keine Rettung.«
Eine lange Stille trat ein. Atréju hatte das Gesicht in der Beuge seines Arms vergraben, und ein Zittern lief durch seinen Körper. Er fürchtete, einen Schrei der Verzweiflung von ihren Lippen zu hören, einen Wehlaut, vielleicht auch bitteren Tadel oder gar einen Zornesausbruch. Er wußte selbst nicht, was er erwartete - aber ganz gewiß war es nicht das, was er nun hörte: Sie lachte. Sie lachte leise und vergnügt. Atréjus Gedanken verwirrten sich, für einen Augenblick glaubte er, sie sei wahnsinnig geworden. Aber es war nicht das Lachen des Wahnsinns. Dann hörte er ihre Stimme sagen:
»Aber du hast ihn doch mitgebracht.«
Atréju hob den Kopf.
»Wen?«
»Unseren Retter.«
Er blickte ihr forschend in die Augen und konnte nichts darin finden als Klarheit und Heiterkeit. Sie lächelte wieder.
»Du hast deinen Auftrag erfüllt. Ich danke dir für alles, was du getan und gelitten hast.«
Er schüttelte den Kopf.
»Goldäugige Gebieterin der Wünsche«, stotterte er und benützte jetzt zum ersten Mal die offizielle Anrede, die Fuchur ihm empfohlen hatte,»ich… nein wirklich, ich begreife nicht, was du meinst.«