»Das sieht man dir an«, sagte sie,»aber ob du es nun begreifst oder nicht, du hast es fertiggebracht. Und das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?«
Atréju schwieg. Ihm fiel nicht einmal mehr eine Frage ein. Er starrte die Kindliche Kaiserin mit offenem Mund an.
»Ich habe ihn gesehen«, fuhr sie fort,»und auch er hat mich angeblickt.«
»Wann war das?« wollte Atréju wissen.
»Eben, als du eingetreten bist. Du hast ihn mitgebracht.«
Atréju schaute sich unwillkürlich um.
»Wo ist er denn? Ich sehe hier niemand als mich und dich.«
»Oh, es gibt noch manches, was für dich unsichtbar ist«, antwortete sie,»aber du kannst es mir glauben. Noch ist er nicht in unserer Welt. Aber unsere Welten sind einander schon so nah, daß wir uns sehen konnten, denn für die Dauer eines Blitzstrahls wurde die dünne Wand, die uns noch trennt, durchsichtig. Bald wird er ganz bei uns sein und mich bei meinem neuen Namen rufen, den nur er mir geben kann. Dann werde ich gesund werden und Phantásien mit mir.«
Während der Worte der Kindlichen Kaiserin hatte Atréju sich mühsam aufgesetzt. Er blickte zu ihr empor, die auf ihrem Polsterlager ein wenig höher saß, und seine Stimme klang belegt, als er nun fragte:
»Dann kennst du also längst die Botschaft, die ich dir bringen sollte.
Was die Uralte Morla in den Sümpfen der Traurigkeit mir verraten hat, was die geheimnisvolle Stimme der Uyulála im Südlichen Orakel mir offenbaren konnte - alles das weißt du schon?«
»Ja«, sagte sie,»und ich wußte es, ehe ich dich auf die Große Suche schickte.«
Atréju schluckte ein paarmal.
»Warum«, brachte er schließlich heraus,»hast du mich dann losgeschickt? Was hast du von mir erwartet?«
»Nichts anderes«, antwortete sie,»als was du getan hast.«
»Was ich getan habe…«, wiederholte Atréju langsam. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile Zornesfalte.»Wenn es so ist, wie du sagst, dann war alles unnötig. Es war überflüssig, daß du mich auf die Große Suche geschickt hast. Ich habe sagen hören, daß deine Entscheidungen für unsereins oft unbegreiflich sind. Das mag sein. Doch fällt es mir schwer nach allem, was ich erlebt habe, geduldig hinzunehmen, daß du dir nur einen Spaß mit mir gemacht hast.«
Die Augen der Kindlichen Kaiserin wurden sehr ernst.
»Ich habe mir keinen Spaß mit dir erlaubt, Atréju«, sagte sie,»und ich weiß gut, was ich dir schulde. Alles, was du durchmachen mußtest, war notwendig. Ich habe dich auf die Große Suche geschickt - nicht wegen der Botschaft, die du mir nun bringen wolltest, sondern weil es das einzige Mittel war, unseren Retter zu rufen. Denn er hat an allem teilgenommen, was du erlebt hast, und er ist mit dir den weiten Weg gekommen. Du hast seinen Schreckensschrei am Tiefen Abgrund gehört, als du mit Ygramul redetest, und du hast seine Gestalt gesehen, als du vor dem Zauber Spiegel Tor standest. Du bist in sein Bild hineingegangen und hast es mit dir genommen, und darum ist er dir gefolgt, denn er hat sich selbst mit deinen Augen gesehen. Und auch jetzt vernimmt er jedes Wort, das wir miteinander sprechen. Und er weiß, daß wir von ihm reden und auf ihn warten und hoffen. Und nun versteht er vielleicht, daß all die große Mühsal, die du, Atréju, auf dich genommen hast, ihm galt, daß ganz Phantásien nach ihm ruft!«
Atréju blickte noch immer düster vor sich hin, aber nach und nach glättete sich die Zornesfalte auf seiner Stirn.
»Wie kannst du alles das wissen«, fragte er nach einer Weile,»den Schrei am Tiefen Abgrund und das Bild im Zauberspiegel, - oder war auch das alles vorherbestimmt von dir?«
Die Kindliche Kaiserin hob AURYN hoch, und während sie es sich um den Hals legte, antwortete sie:
»Hast du nicht immer den Glanz getragen? Hast du nicht gewußt, daß ich dadurch immer bei dir war?«
»Immer nicht«, erwiderte Atréju,»ich hatte es verloren.«
»Ja«, sagte sie,»da warst du wirklich allein. Erzähle mir, was in dieser Zeit geschah!«
Atréju berichtete, was er erlebt hatte.
»Nun weiß ich, warum du grau geworden bist«, sagte die Kindliche Kaiserin.»Du bist dem Nichts zu nah gekommen.«
»Aber ist es denn wahr«, wollte Atréju wissen,»was Gmork, der Werwolf, über die vernichteten Geschöpfe Phantásiens sagte, daß sie zu Lügen in der Welt der Menschenkinder werden?«
»Ja, es ist wahr«, erwiderte die Kindliche Kaiserin, und ihre goldenen Augen wurden dunkel,»alle Lügen waren einmal Geschöpfe Phantásiens. Sie sind aus dem gleichen Stoff - aber sie sind unkenntlich geworden und haben ihr wahres Wesen verloren. Doch was Gmork dir sagte, war nur die halbe Wahrheit, wie es von einem Halbwesen nicht anders zu erwarten ist. Es gibt zwei Wege, die Grenze zwischen Phantásien und der Menschenwelt zu überschreiten, einen richtigen und einen falschen. Wenn die Wesen Phantásiens auf diese grausige Art hinübergezerrt werden, so ist es der falsche. Wenn aber Menschenkinder in unsere Welt kommen, so ist es der richtige. Alle, die bei uns waren, haben etwas erfahren, was sie nur hier erfahren konnten und was sie verändert zurückkehren ließ in ihre Welt. Sie waren sehend geworden, weil sie euch in eurer wahren Gestalt gesehen hatten. Darum konnten sie nun auch ihre eigene Welt und ihre Mitmenschen mit anderen Augen sehen. Wo sie vorher nur Alltäglichkeit gefunden hatten, entdeckten sie plötzlich Wunder und Geheimnisse. Deshalb kamen sie gern zu uns nach Phantásien. Und je reicher und blühender unsere Welt dadurch wurde, desto weniger Lügen gab es in der ihren und desto vollkommener war also auch sie. So wie unsere beiden Welten sich gegenseitig zerstören, so können sie sich auch gegenseitig gesund machen.«
Atréju dachte eine Weile nach, dann fragte er:
»Wie hat es denn angefangen?«
»Das Elend, das über beide Welten gekommen ist«, antwortete die Kindliche Kaiserin,»ist auch zweifachen Ursprungs. Nun ist alles in sein Gegenteil verkehrt: Was sehend machen kann, verblendet, was Neues erschaffen kann, wird zur Vernichtung. Die Rettung liegt bei den Menschenkindern. Eines, ein einziges muß kommen und mir einen neuen Namen geben. Und es wird kommen.«
Atréju schwieg.
»Verstehst du nun, Atréju«, fragte die Kindliche Kaiserin,»warum ich dir so viel auferlegen mußte? Nur durch eine lange Geschichte voller Abenteuer, Wunder und Gefahren konntest du unseren Retter zu mir führen. Und das war deine Geschichte.«
Atréju saß in tiefes Nachdenken versunken. Endlich nickte er.
»Ich verstehe nun, Goldäugige Gebieterin der Wünsche. Ich danke dir dafür, daß du mich erwählt hast. Verzeih mir meinen Zorn.«
»Du konntest das alles nicht wissen«, antwortete sie sanft,»und auch das war notwendig.«
Atréju nickte wieder. Nach einem kleinen Schweigen sagte er:
»Aber ich bin sehr müde.«
»Du hast genug getan, Atréju«, erwiderte sie,»möchtest du ausruhen?«
»Noch nicht. Erst möchte ich noch das gute Ende meiner Geschichte erleben. Wenn es so ist, wie du sagst, und wenn ich meinen Auftrag erfüllt habe - warum ist der Retter dann noch immer nicht hier? Worauf wartet er noch?«
»Ja«, meinte die Kindliche Kaiserin leise,»worauf wartet er noch?«
Bastian fühlte, wie seine Hände vor Aufregung feucht wurden.
»Ich kann doch nicht«, sagte er,»ich weiß ja gar nicht, was ich tun muß. Und vielleicht ist der Name, der mir eingefallen ist, auch gar nicht der richtige.«
»Darf ich dich noch etwas fragen?« nahm Atréju das Gespräch wieder auf.