»Alles, was ich aufschreibe, geschieht«, war die Antwort. Und wieder war es diese tiefe, dunkle Stimme, die sie wie ein Echo ihrer eigenen Stimme vernommen hatte.
Das Eigenartige war, daß der Alte vom Wandernden Berge den Mund nicht geöffnet hatte. Er hatte ihre und seine Worte hingeschrieben, und sie hatte sie so gehört, als ob sie sich nur erinnere, daß er eben gesprochen habe. »Du und ich«, fragte sie, »und ganz Phantásien - alles ist in diesem Buch verzeichnet?«
Er schrieb und zugleich vernahm sie seine Antwort:
»Nicht so. Dieses Buch ist ganz Phantásien und du und ich.«
»Und wo ist dieses Buch?«
»Im Buch«, war die Antwort, die er schrieb.
»Dann ist es nur Schein und Widerschein?« fragte sie.
Und er schrieb und sie hörte ihn sagen:
»Was zeigt ein Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt? Weißt du das, Goldäugige Gebieterin der Wünsche?«
Die Kindliche Kaiserin schwieg eine Weile und der Alte schrieb zugleich auf, daß sie schwieg.
Dann sagte sie leise: »Ich brauche deine Hilfe.«
»Ich weiß«, antwortete und schrieb er.
»Ja«, meinte sie, »so muß es wohl sein. Du bist die Erinnerung Phantásiens und weißt alles, was geschehen ist bis zu diesem Augenblick. Aber kannst du nicht vorblättern in deinem Buch und sehen, was erst geschehen wird?«
»Leere Seiten!« war die Antwort. »Ich kann nur zurückschauen auf das, was geschehen ist. Ich konnte es lesen, während ich es schrieb. Und ich weiß es, weil ich es las. Und ich schrieb es, weil es geschah. So schreibt sich die Unendliche Geschichte selbst durch meine Hand.«
»Du weißt also nicht, warum ich zu dir gekommen bin?«
»Nein«, hörte sie seine dunkle Stimme, während er schrieb, »und ich wollte, du hättest es nicht getan. Durch mich wird alles unveränderlich und endgültig - auch du, Goldäugige Gebieterin der Wünsche. Dieses Ei ist dein Grab und dein Sarg. Du bist in die Erinnerung Phantásiens eingegangen. Wie willst du diesen Ort je wieder verlassen?«
»Jedes Ei«, antwortete sie, »ist der Anfang neuen Lebens.«
»Wahr«, schrieb und sagte der Alte, »aber nur, wenn seine Schale aufspringt.«
»Du kannst sie öffnen«, rief die Kindliche Kaiserin, »du hast mich eingelassen.«
Der Alte schüttelte den Kopf und schrieb es auf.
»Es war deine Kraft, die es bewirkte. Aber da du nun hier bist, hast du sie nicht mehr. Wir sind eingeschlossen für immer. Wahrlich, du hättest nicht kommen dürfen! Dies ist das Ende der Unendlichen Geschichte.«
Die Kindliche Kaiserin lächelte und schien nicht im geringsten beunruhigt.
»Du und ich«, sagte sie, »vermögen es nicht mehr. Aber es gibt einen, der es kann.«
»Einen neuen Anfang schaffen«, schrieb der Alte, »kann nur ein Menschenkind.«
»Ja«, erwiderte sie, »ein Menschenkind.«
Langsam hob der Alte vom Wandernden Berge seinen Blick und sah die Kindliche Kaiserin zum ersten Mal an. Es war, als käme dieser Blick vom anderen Ende des Universums, aus solcher Ferne kam er und aus solcher Dunkelheit. Sie erwiderte ihn mit ihren goldenen Augen und hielt ihm stand. Es war wie ein schweigender und regloser Kampf. Schließlich beugte sich der Alte wieder über sein Buch und schrieb:
»Wahre die Grenze, die auch dir gesetzt ist!«
»Das will ich«, antwortete sie, »aber der, von dem ich rede und auf den ich warte, hat sie längst überschritten. Er liest in diesem Buch, in dem du schreibst, und vernimmt jedes Wort, das wir sprechen. Er ist also bei uns.«
»Wahr«, hörte sie die Stimme des Alten, während er schrieb, »auch er gehört schon unwiderruflich zur Unendlichen Geschichte, denn es ist seine eigene Geschichte.«
»Erzähle sie mir!« befahl die Kindliche Kaiserin. »Du, der du die Erinnerung Phantásiens bist, erzähle sie mir - von Anfang an und Wort für Wort, so wie du sie geschrieben hast!«
Die schreibende Hand des Alten begann zu zittern.
»Wenn ich das tue, so muß ich auch alles von neuem schreiben. Und was ich schreibe, wird von neuem geschehen.«
»So soll es sein!« sagte die Kindliche Kaiserin.
Bastian wurde unbehaglich zumut.
Was mochte sie vorhaben? Irgend etwas hatte es mit ihm zu tun. Aber wenn selbst dem Alten vom Wandernden Berge die Hand zu zittern anfing…
Der Alte schrieb und sagte:
Und die Kindliche Kaiserin antwortete:
»Wahrlich, du bist schrecklich«, sagte und schrieb der Alte, »das bedeutet das Ende ohne Ende. Wir werden eintreten in den Kreis der ewigen Wiederkehr. Daraus gibt es kein Entrinnen.«
»Für uns nicht«, antwortete sie und ihre Stimme war nicht mehr sanft, sondern hart und klar wie ein Diamant, »aber auch für ihn nicht - es sei denn, er rettet uns alle.«
»Willst du wirklich alles in die Hände eines Menschenkindes legen?«
»Das will ich.«
Und dann fügte sie leiser hinzu:
»Oder weißt du anderen Rat?«
Lang war es still, ehe die dunkle Stimme des Alten sagte:
»Nein.«
Er stand tief über das Buch gebeugt, in dem er schrieb. Sein Gesicht war von der Kapuze verdeckt und nicht mehr zu sehen.
»Dann tu, worum ich dich gebeten habe!«
Der Alte vom Wandernden Berge unterwarf sich dem Willen der Kindlichen Kaiserin und begann, ihr die Unendliche Geschichte von Anfang an zu erzählen.
In diesem Augenblick wechselte der Lichtschein, der aus den Seiten des Buches strahlte, die Farbe. Er wurde rötlich wie die Schriftzeichen, die sich jetzt unter dem Stift des Alten bildeten. Auch seine Mönchskutte und die Kapuze waren nun kupferfarben. Und während er schrieb, erklang zugleich seine tiefe Stimme.
Auch Bastian hörte sie ganz deutlich.
Dennoch waren ihm die ersten Worte, die der Alte sprach, unverständlich. Sie klangen etwa wie »Tairauqitna rednaerok darnok lrak rebahni« .
Merkwürdig, dachte Bastian, warum redete der Alte plötzlich in einer fremden Sprache? Oder war es vielleicht eine Zauberformel?
Die Stimme des Alten fuhr fort und Bastian mußte ihr folgen.
»Diese Inschrift stand auf der Glastür eines kleinen Ladens, aber so sah sie natürlich nur aus, wenn man vom Inneren des dämmerigen Raumes durch die Scheibe auf die Straße hinausblickte.
Draußen war ein grauer, kalter Novembermorgen und es regnete in Strömen. Die Tropfen liefen am Glas herunter und über die geschnörkelten Buchstaben. Alles, was man durch die Scheibe sehen konnte, war eine graue, regenfleckige Mauer auf der anderen Straßenseite.«
Die Geschichte kenne ich gar nicht, dachte Bastian etwas enttäuscht, sie kommt überhaupt nicht in dem Buch vor, das ich bis jetzt gelesen habe. Na ja, jetzt zeigt es sich ja, daß ich mich eben doch die ganze Zeit geirrt habe. Ich hab' schon wirklich geglaubt, der Alte würde jetzt anfangen, die Unendliche Geschichte von vorn zu erzählen.
»Plötzlich wurde die Tür so heftig aufgerissen, daß eine kleine Traube von Messingglöckchen, die über ihr hing, aufgeregt zu bimmeln begann und sich eine ganze Weile nicht wieder beruhigen konnte.
Der Urheber dieses Tumults war ein kleiner, dicker Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren. Das dunkelbraune Haar hing ihm naß ins Gesicht, sein Mantel war vom Regen durchweicht und tropfte, an einem Riemen über der Schulter trug er eine Schulmappe. Er war ein wenig blaß und außer Atem, aber ganz im Gegensatz zu der Eile, die er eben noch gehabt hatte, stand er nun wie angewurzelt in der offenen Tür…«