Inzwischen war das glimmende Unterholz des Waldes rund um ihn her so dicht geworden, daß es ihm den Ausblick nach allen Seiten versperrte. Und überdies begannen nun auch noch Lianen und Luftwurzeln von oben herunter zu wachsen und sich mit dem Dickicht zu einem undurchdringlichen Gestrüpp zu verweben. Bastian bahnte sich mit Handkantenschlägen einen Pfad, und das Dickicht ließ sich zerteilen, als habe er eine Machete, ein Buschmesser benützt. Gleich hinter ihm schloß sich die Bresche wieder, so vollkommen, als habe es sie nie gegeben.
Er ging weiter, aber eine Mauer von Baumriesen versperrte ihm den Weg, deren Stämme ohne Zwischenraum aneinandergepreßt standen.
Bastian griff mit beiden Händen zu - und bog zwei Stämme auseinander! Hinter ihm schloß sich wieder geräuschlos der Spalt.
Bastian stieß einen wilden Jubelschrei aus.
Er war der Herr des Urwalds!
Eine Zeitlang vergnügte er sich damit, sich Bahn durch den Dschungel zu brechen, wie ein Elefant, der den Großen Ruf gehört hat. Seine Kräfte ließen nicht nach, keinen Augenblick mußte er innehalten, um zu Atem zu kommen, es gab kein Seitenstechen und kein Herzhämmern, er schwitzte noch nicht einmal.
Aber schließlich hatte er sich satt getobt und es überkam ihn Lust, Perelín, sein Reich, einmal aus der Höhe zu überblicken, um zu sehen, wie weit es sich schon erstreckte.
Er blickte prüfend nach oben, spuckte in die Hände, ergriff eine Liane und begann, sich hinaufzuziehen, einfach so, Hand über Hand, und ohne dazu die Beine zu benützen, wie er es bei Zirkusartisten gesehen hatte. Als ein verblaßtes Erinnerungsbild aus längst vergangenen Tagen sah er sich für einen Augenblick während der Turnstunden, wo er zum glucksenden Vergnügen der ganzen Klasse wie ein Mehlsack am untersten Ende des Kletterseils gebaumelt hatte. Er mußte lächeln. Sicherlich hätten sie Mund und Nase aufgesperrt, wenn sie ihn jetzt hätten sehen können. Sie wären stolz darauf gewesen, ihn zu kennen. Aber er würde sie nicht einmal beachtet haben.
Ohne ein einziges Mal innezuhalten, erreichte er schließlich den Ast, von dem die Liane herunterhing. Er setzte sich rittlings darauf. Der Ast war dick wie eine Tonne und phosphoreszierte von innen heraus rötlich. Bastian stellte sich vorsichtig auf und balancierte auf den Stamm des Baumes zu. Auch hier versperrte dichtes Rankengestrüpp den Weg, aber er verschaffte sich ohne Mühe Durchgang.
Der Stamm war hier oben noch immer so dick, daß fünf Männer ihn nicht umspannen konnten. Ein anderer Seitenast, der etwas höher und in anderer Richtung aus dem Stamm hervorragte, war von Bastians Standort aus nicht zu erreichen. Also schwang er sich mit einem Sprung zu einer Luftwurzel hinüber und schaukelte so lange hin und her, bis er den höheren Ast, wiederum durch einen gewagten Sprung, zu fassen bekam. Von dort aus konnte er sich zu einem noch höheren hinaufziehen. Er war nun schon sehr hoch im Gezweig, mindestens hundert Meter, aber das glimmende Blatt- und Astwerk ließ keine Sicht nach unten zu.
Erst als er etwa die doppelte Höhe erreicht hatte, gab es da und dort freie Stellen, die einen Rundblick gestatteten. Doch dann fing die Sache erst an, schwierig zu werden, gerade weil es immer weniger Zweige und Äste gab. Und schließlich, als er schon fast ganz oben war, mußte er innehalten, weil er nichts mehr fand, woran er sich hätte festhalten können, als den nackten, glatten Stamm, der immerhin noch die Dicke einer Telegraphenstange hatte.
Bastian blickte nach oben und sah, daß dieser Stamm oder Stengel ungefähr zwanzig Meter höher in einer riesengroßen, dunkelrot leuchtenden Blüte endete. Wie er dort von unten hineinkommen sollte, war ihm nicht klar. Aber er mußte hinauf, denn hier wo er war, wollte er nicht bleiben. Er umklammerte also den Stamm und kletterte die letzten zwanzig Meter wie ein Akrobat empor. Der Stamm schwankte hin und her und bog sich wie ein Grashalm im Wind.
Endlich hing er unmittelbar unter der Blüte, die sich wie eine Tulpe nach oben öffnete. Es gelang ihm, eine Hand zwischen die Blütenblätter zu schieben. So fand er Halt, drängte die Blätter weiter auseinander und zog sich hinauf.
Einen Augenblick lang blieb er liegen, denn nun war er doch ein wenig außer Atem. Aber gleich stand er auf und blickte über den Rand der rotglimmenden Riesenblüte wie aus einem Mastkorb nach allen Seiten.
Der Anblick war über alle Worte großartig!
Die Pflanze, in deren Blüte er stand, war eine der höchsten des ganzen Dschungels, und so reichte sein Blick sehr weit. Über ihm war noch immer das samtene Dunkel wie ein sternenloser Nachthimmel, aber unter ihm dehnte sich die Unendlichkeit der Wipfel von Perelín in einem Farbenspiel, daß ihm schier die Augen übergingen.
Und Bastian stand lange und trank das Bild in sich hinein. Das war sein Reich! Er hatte es erschaffen! Er war der Herr von Perelín.
Und noch einmal flog sein wilder Jubelschrei weit über den leuchtenden Dschungel hin.
Das Wachstum der Nachtpflanzen aber ging schweigend, sanft und unaufhaltsam weiter.
14.
Goab, die Wüste der Farben
Nachdem Bastian in der rotglimmenden Riesenblüte tief und lang geschlafen hatte und die Augen aufschlug, sah er, daß sich noch immer der samtschwarze Nachthimmel über ihm wölbte. Er streckte sich und fühlte zufrieden die wunderbare Kraft in seinen Gliedern.
Und wiederum war, ohne daß er etwas davon bemerkte, eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Der Wunsch, stark zu sein, hatte sich erfüllt.
Als er nun aufstand und über den Rand der Riesenblüte in die Runde spähte, stellte er fest, daß Perelín offenbar nach und nach zu wachsen aufgehört hatte. Der Nachtwald hatte sich nicht mehr sehr verändert. Bastian wußte nicht, daß auch das mit der Erfüllung seines Wunsches zusammenhing und daß zugleich die Erinnerung an seine Schwäche und Ungeschicklichkeit ausgelöscht war. Er war schön und stark, aber irgendwie genügte ihm das nicht. Es kam ihm jetzt sogar ein bißchen weichlich vor. Schön und stark sein war nur etwas wert, wenn man dazu auch abgehärtet war, zäh und spartanisch. So wie Atréju. Aber unter diesen leuchtenden Blumen, wo man nur die Hand nach den Früchten auszustrecken brauchte, war dazu keine Gelegenheit.
Im Osten begannen über dem Horizont von Perelín die ersten zarten Perlmuttertöne der Morgendämmerung zu spielen. Und je heller es wurde, desto mehr verblaßte das Phosphoreszieren der Nachtpflanzen.
»Gut«, sagte Bastian vor sich hin, »ich dachte schon, es würde hier überhaupt nie Tag werden.«
Er setzte sich auf den Boden der Blüte, und überlegte, was er nun tun wollte. Wieder hinunterklettern und weiter herumspazieren? Gewiß, als der Herr von Perelín konnte er sich Wege bahnen, wo es ihm gefiel. Er konnte Tage, Monate, vielleicht Jahre darin herumlaufen. Der Dschungel war viel zu groß, als daß er je aus ihm hinausfinden würde. So schön die Nachtpflanzen auch waren, auf die Dauer war es nicht das Richtige für Bastian. Etwas anderes wäre es zum Beispiel eine Wüste zu durchwandern - die größte Wüste Phantásiens. Ja, das wäre etwas, worauf man wirklich stolz sein könnte!
Und in diesem Augenblick fühlte er eine heftige Erschütterung durch die ganze Riesenpflanze gehen. Der Stamm neigte sich und ein knisterndes und rieselndes Geräusch war zu hören. Bastian mußte sich festhalten, um nicht aus der Blüte hinauszurollen, die sich immer weiter senkte und nun schon waagrecht stand. Der Blick über Perelín, der sich ihm dadurch bot, war erschreckend.