Über Winzlinge wußte das Irrlicht so gut wie nichts. Es hatte nur einmal sagen hören, daß dieses Volk ganze Städte auf den Ästen von Bäumen baute, wobei die Häuschen untereinander durch Treppchen, Strickleitern und Rutschbahnen verbunden seien. Doch wohnten diese Leute in einem ganz anderen Teil des grenzenlosen Phantásischen Reiches, noch viel, viel weiter weg von hier als die Felsenbeißer. Um so erstaunlicher war es, daß das Reittier, das der hier anwesende Winzling bei sich hatte, ausgerechnet eine Schnecke war. Sie saß hinter ihm. Auf ihrem rosa Gehäuse glitzerte ein kleiner silberner Sattel, und auch das Zaumzeug und die Zügel, die an ihren Fühlern befestigt waren, glänzten wie Silberfäden.
Das Irrlicht wunderte sich, daß gerade diese drei so verschiedenartigen Wesen hier einträchtig beisammen saßen, denn normalerweise war es in Phantásien durchaus nicht so, daß alle Gattungen in Frieden und Eintracht miteinander lebten. Es gab oft Kämpfe und Kriege, es gab auch jahrhundertelange Fehden unter gewissen Arten, und es gab außerdem nicht nur ehrliche und gute Geschöpfe, sondern auch räuberische, bösartige und grausame. Das Irrlicht selbst gehörte ja durchaus einer Familie an, der man, was Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit betraf, einiges vorwerfen konnte.
Erst nachdem es eine Weile die Szene im Feuerschein beobachtet hatte, bemerkte das Irrlicht, daß jede der drei Gestalten dort entweder ein weißes Fähnchen bei sich hatte oder eine weiße Schärpe quer über der Brust trug. Also waren auch sie Boten oder Unterhändler, und das erklärte natürlich, daß sie sich so friedlich verhielten.
Sollten sie am Ende sogar in der gleichen Angelegenheit unterwegs sein wie das Irrlicht selbst?
Was sie sprachen, war aus der Entfernung nicht zu verstehen wegen des brausenden Windes, der in den Baumwipfeln wühlte. Aber da sie sich gegenseitig als Boten respektierten, würden sie vielleicht auch das Irrlicht als solchen anerkennen und ihm nichts tun. Und irgend jemanden mußte es schließlich nach dem Weg fragen. Eine günstigere Gelegenheit würde sich mitten im Wald und mitten in der Nacht wohl kaum bieten. Es faßte sich also ein Herz, kam aus seinem Versteck hervor, schwenkte das weiße Fähnchen und blieb zitternd in der Luft stehen.
Der Felsenbeißer, der ja mit dem Gesicht in seiner Richtung lag, bemerkte es als erster.
»Mächtig viel Betrieb hier heute nacht«, sagte er mit knarrender Stimme.»Da kommt noch einer.«
»Huhu, ein Irrlicht!« raunte der Nachtalb, und seine Mondaugen glühten auf.»Freut mich, freut mich!«
Der Winzling stand auf, ging ein paar Schrittchen auf den Ankömmling zu und piepste:»Wenn ich richtig sehe, so sind auch Sie in Ihrer Eigenschaft als Bote hier?«
»Ja«, sagte das Irrlicht.
Der Winzling nahm seinen roten Zylinder ab, machte eine kleine Verbeugung und zwitscherte:»Oh, so treten Sie doch näher, bitte sehr. Auch wir sind Boten. Nehmen Sie Platz in unserem Kreis.«
Und er wies einladend mit dem Hütchen auf die freie Stelle am Feuer.
»Vielen Dank«, sagte das Irrlicht und trat schüchtern näher,»ich bin so frei. Darf ich mich vorstellen: Ich heiße Blubb.«
»Sehr erfreut«, antwortete der Winzling.»Ich heiße Ückück.«
Der Nachtalb verbeugte sich im Sitzen.»Mein Name ist Wúschwusul.«
»Angenehm!« knarrte der Felsenbeißer,»ich bin Pjörnrachzarck.«
Alle drei schauten das Irrlicht an, das sich vor Verlegenheit wand. Irrlichtern ist es äußerst unangenehm, ganz unverhohlen betrachtet zu werden.
»Wollen Sie sich nicht setzen, lieber Blubb?« fragte der Winzling.
»Eigentlich«, antwortete das Irrlicht,»bin ich sehr in Eile und wollte Sie nur fragen, ob Sie mir vielleicht sagen könnten, in welcher Richtung ich von hier aus zum Elfenbeinturm komme.«
»Huhu!« machte der Nachtalb,»will man zur Kindlichen Kaiserin?«
»Ganz recht«, sagte das Irrlicht,»ich habe ihr eine wichtige Botschaft zu überbringen.«
»Was denn für eine?« knarzte der Felsenbeißer.
»Nun -«, das Irrlicht trat von einem Bein aufs andere,»- es ist eine geheime Botschaft.«
»Wir drei haben das gleiche Ziel wie du - huhu!« erwiderte der Nachtalb Wúschwusul.»Man ist unter Kollegen.«
»Möglicherweise haben wir sogar die gleiche Botschaft«, meinte der Winzling Ückück.
»Setz dich und red!« knirschte Pjörnrachzarck.
Das Irrlicht ließ sich auf den freien Platz nieder.
»Mein Heimatland«, begann es nach kurzem Bedenken,»liegt ziemlich weit von hier - ich weiß nicht, ob einer der Anwesenden es kennt. Es heißt das Moder-Moor.«
»Huuu!« seufzte der Nachtalb entzückt,»eine wunderschöne Gegend!«
Das Irrlicht lächelte schwach.
»Ja, nicht wahr?«
»Ist das schon alles?« knarrte Pjörnrachzarck.»Warum bist du unterwegs, Blubb?«
»Bei uns im Moder-Moor«, fuhr das Irrlicht stockend fort,»ist etwas geschehen - etwas Unbegreifliches - das heißt, es geschieht eigentlich immer noch - es ist schwer zu beschreiben - es begann damit, daß - also im Osten unseres Landes gibt es einen See - oder vielmehr, es gab ihn - er hieß Brodelbrüh. Und es begann also damit, daß der See Brodelbrüh eines Tages nicht mehr da war - einfach weg, versteht ihr?«
»Wollen Sie sagen«, erkundigte sich Ückück,»er sei ausgetrocknet?«
»Nein«, versetzte das Irrlicht,»dann wäre eben dort jetzt ein ausgetrockneter See. Aber das ist nicht der Fall. Dort, wo der See war, ist jetzt gar nichts mehr - einfach gar nichts, versteht ihr?«
»Ein Loch?« grunzte der Felsenbeißer.
»Nein, auch kein Loch«, - das Irrlicht wirkte zusehends hilfloser -»ein Loch ist ja irgend etwas. Aber dort ist nichts.«
Die drei anderen Boten wechselten Blicke miteinander.
»Wie sieht denn das aus - huhu - dieses Nichts?« fragte der Nachtalb.
»Das ist es ja gerade, was so schwer zu beschreiben ist«, versicherte das Irrlicht unglücklich.»Es sieht eigentlich gar nicht aus. Es ist - es ist wie - ach, es gibt kein Wort dafür!«
»Es ist«, fiel der Winzling ein,»als ob man blind wäre, wenn man auf die Stelle schaut, nicht wahr?«
Das Irrlicht starrte ihn mit offenem Mund an.
»Das ist der richtige Ausdruck!« rief es.»Aber woher - ich meine, wieso - oder kennt ihr auch dieses -?«
»Augenblick!« knarrte der Felsenbeißer dazwischen.»Ist es bei der einen Stelle geblieben, sag?«
»Zunächst ja«, erklärte das Irrlicht,»das heißt, die Stelle wurde nach und nach immer größer. Irgendwie fehlte immer mehr von der Gegend. Die Ur-Unke Umpf, die mit ihrem Volk im Brodelbrüh-See lebte, war dann auch plötzlich einfach weg. Andere Einwohner begannen zu fliehen. Aber nach und nach fing es auch an anderen Stellen im Moder-Moor an. Manchmal war es anfangs nur ganz klein, ein Nichts, so groß wie ein Sumpfhuhn-Ei. Aber diese Stellen machten sich breit. Wenn jemand aus Versehen mit dem Fuß hineintrat, dann war auch der Fuß weg - oder die Hand - oder was eben sonst hineingeraten war. Es tut übrigens nicht weh - nur daß dem Betreffenden dann eben plötzlich ein Stück fehlt. Manche haben sich sogar absichtlich hineinfallen lassen, wenn sie dem Nichts zu nahe gekommen sind. Es übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die um so stärker wird, je größer die Stelle ist. Niemand von uns konnte sich erklären, was diese schreckliche Sache sein konnte, woher sie kam und was man dagegen tun sollte. Und da es von selbst nicht wieder verschwand, sondern sich immer mehr ausbreitete, wurde schließlich beschlossen, einen Boten zur Kindlichen Kaiserin zu senden, um sie um Rat und Hilfe zu bitten. Und dieser Bote bin ich.«