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»Halte dich gut fest, Herr, denn ich bin ein schneller Läufer. Und noch eines will ich dich bitten, Herr: Solang du in meinem Reich bist oder gar mit mir zusammen - versprich mir, daß du aus keinem Grund und auch nicht für den kleinsten Augenblick das schützende Kleinod ablegst!«

»Ich verspreche es dir«, sagte Bastian.

Dann setzte der Löwe sich in Bewegung, erst noch langsam und würdevoll, dann immer schneller und schneller. Staunend beobachtete Bastian, wie bei jedem neuen Sandhügel Fell und Mähne des Löwen die Farbe wechselten, immer der Farbe der Düne entsprechend. Aber schließlich sprang Graógramán in mächtigen Sätzen von einem Gipfel zum nächsten, er raste dahin und seine gewaltigen Pranken berührten kaum noch den Boden. Der Wechsel der Farben in seinem Fell vollzog sich immer geschwinder, bis es Bastian vor den Augen zu flimmern begann und er alle Farben zugleich sah, so als wäre das ganze riesige Tier ein einziger irisierender Opal. Er mußte die Augen schließen. Der Wind, heiß wie die Hölle, pfiff ihm um die Ohren und zerrte an seinem Mantel, der hinter ihm dreinflatterte. Er fühlte die Bewegung der Muskeln im Körper des Löwen und roch das Mähnengestrüpp, das einen wilden, erregenden Duft ausströmte. Er stieß einen gellenden, triumphierenden Schrei aus, der wie der eines Raubvogels klang, und Graógramán antwortete ihm mit einem Brüllen, das die Wüste erbeben ließ. Für diesen Augenblick waren sie beide eins, wie groß auch sonst der Unterschied zwischen ihnen sein mochte. Bastian war wie in einem Rausch, aus dem er erst wieder zu sich kam, als er Graógramán sagen hörte:

»Wir sind angelangt, Herr. Willst du geruhen, abzusteigen?«

Mit einem Sprung landete Bastian auf dem Sandboden. Vor sich erblickte er einen zerklüfteten Berg aus schwarzem Felsgestein - oder war es die Ruine eines Bauwerks? Er hätte es nicht zu sagen vermocht, denn die Steine, die halb vom bunten Sand verweht umherlagen oder zerfallene Torbogen, Mauern, Säulen und Terrassen bildeten, waren von tiefen Sprüngen und Rissen durchzogen und auf eine Art ausgehöhlt, als habe seit Urzeiten der Sandsturm all ihre Kanten und Unebenheiten abgeschliffen.

»Dies, Herr«, hörte Bastian die Löwenstimme sagen, »ist mein Palast - und mein Grab. Tritt ein und sei willkommen als der erste und einzige Gast Graógramáns.«

Die Sonne hatte ihre sengende Kraft bereits verloren und stand groß und blaßgelb über dem Horizont. Offenbar hatte der Ritt viel länger gedauert, als er Bastian vorgekommen war. Die Säulenstümpfe oder Felsnadeln, was immer es nun sein mochte, warfen schon lange Schatten. Bald würde es Abend sein.

Als Bastian dem Löwen durch einen dunklen Torbogen folgte, der ins Innere von Graógramáns Palast führte, kam es ihm so vor, als ob dessen Schritte weniger kraftvoll als vorher, ja müde und schwerfällig seien.

Durch einen dunklen Gang, über verschiedene Treppen, die abwärts und wieder aufwärts führten, gelangten sie zu einer großen Tür, deren Flügel ebenfalls aus schwarzem Fels zu bestehen schienen. Als Graógramán auf sie zutrat, sprang sie von selbst auf, und als auch Bastian hindurchgegangen war, schloß sie sich wieder hinter ihm.

Sie standen nun in einem weitläufigen Saal, oder besser gesagt, einer Höhle, die durch Hunderte von Ampeln erleuchtet wurde. Das Feuer in ihnen glich dem bunten Flammenspiel in Graógramáns Fell. In der Mitte erhob sich der mit farbigen Fliesen bedeckte Boden stufenförmig zu einer runden Fläche, auf der ein schwarzer Felsblock ruhte. Graógramán wandte Bastian langsam seinen Blick zu, der nun wie erloschen wirkte.

»Meine Stunde ist nahe Herr«, sagte er und seine Stimme klang wie ein Raunen, »uns wird keine Zeit mehr bleiben für unser Gespräch. Doch sei unbesorgt und warte auf den Tag. Was immer geschehen ist, wird auch diesmal geschehen. Und vielleicht wirst du mir sagen können, warum.«

Dann wandte er den Kopf nach einer kleinen Pforte am anderen Ende der Höhle.

»Tritt dort ein, Herr, du wirst alles für dich bereit finden. Dieses Gemach wartet auf dich seit undenklicher Zeit.«

Bastian ging auf die Pforte zu, doch ehe er sie öffnete, blickte er noch einmal zurück. Graógramán hatte sich auf dem schwarzen Steinblock niedergelassen und nun war er selbst schwarz wie der Fels. Mit einer Stimme, die fast nur noch ein Flüstern war, sagte er:

»Höre, Herr, es ist möglich, daß du Laute vernehmen wirst, die dich erschrecken. Aber sei ohne Sorge! Dir kann nichts geschehen, solang du das Zeichen trägst.«

Bastian nickte, dann trat er durch die Pforte.

Vor ihm lag ein Raum, der aufs herrlichste ausgeschmückt war. Der Boden war mit weichen, farbenprächtigen Teppichen ausgelegt. Die schmalen Säulen, welche ein vielfach geschwungenes Gewölbe trugen, waren mit Goldmosaik bedeckt, das das Licht der Ampeln, die auch hier in allen Farben leuchteten, in tausend Brechungen zurückwarf. In einer Ecke stand ein breiter Diwan mit weichen Decken und Kissen aller Art, über den sich ein Zelt aus azurblauer Seide spannte. In der anderen Ecke war der Felsenboden zu einem großen Schwimmbecken ausgehauen, in welchem eine goldfarbene leuchtende Flüssigkeit dampfte. Auf einem niedrigen Tischchen standen Schüsseln und Schalen mit Speisen, auch eine Karaffe mit einem rubinroten Getränk und ein goldener Becher.

Bastian setzte sich im Türkensitz an dem Tischchen nieder und griff zu. Das Getränk schmeckte herb und wild und löschte auf wunderbare Weise den Durst. Die Speisen waren ihm alle völlig unbekannt. Er hätte noch nicht einmal sagen können, ob es sich dabei um Pasteten handelte, oder große Schoten, oder Nüsse. Manches sah zwar aus wie Kürbisse und Melonen, aber der Geschmack war ganz und gar anders, scharf und würzig. Es schmeckte aufregend und köstlich. Bastian aß bis er satt war.

Dann zog er sich aus - nur das Zeichen nahm er nicht ab - und stieg in das Bad. Eine Weile plätscherte er in der feurigen Flut herum, wusch sich, tauchte unter und prustete wie ein Walroß. Dann entdeckte er kurios aussehende Flaschen, die am Rande des Schwimmbeckens standen. Er hielt sie für Badeessenzen. Unbekümmert schüttete er von jeder Sorte etwas ins Wasser. Ein paarmal gab es grüne, rote und gelbe Flammen, die auf der Oberfläche hin- und herzischten und ein wenig Rauch stieg auf. Es roch nach Harz und bitteren Kräutern.

Schließlich stieg er aus dem Bad, trocknete sich mit weichen Tüchern ab, die bereit lagen, und zog sich wieder an. Dabei kam es ihm so vor, als ob die Ampeln im Raum plötzlich düsterer brannten. Und dann drang ein Laut an sein Ohr, der ihm einen kalten Schauder über den Rücken jagte: ein Knirschen und Knacken, als ob ein großer Fels vom Eis zersprengt würde, und verklang in einem Ächzen, das immer leiser wurde.

Bastian lauschte mit klopfendem Herzen. Er dachte an Graógramáns Worte, daß er sich nicht beunruhigen solle.

Der Laut wiederholte sich nicht. Aber die Stille war fast noch schrecklicher. Er mußte wissen, was da geschehen war!

Er öffnete die Tür des Schlafgemaches und blickte in die große Höhle hinaus. Zunächst konnteer keine Veränderung entdecken, außer daß die Ampeln trüber brannten und ihr Licht wie ein immer langsamer werdender Herzschlag zu pulsieren begann. Der Löwe saß noch immer in derselben Haltung auf dem schwarzen Felsblock und schien Bastian anzublicken.

»Graógramán!« rief Bastian leise, »was geschieht hier? Was war das für ein Laut? Warst du es?«

Der Löwe antwortete nicht und regte sich nicht, aber als Bastian zu ihm trat, folgte er ihm mit den Augen.