Der Wettkampf, bei dem diese Auswahl getroffen werden sollte, war zwar von Silbergreis Quérquobad veranstaltet worden - in der Stadt Amargánth regierte immer der älteste Mann oder die älteste Frau, und Quérquobad war hundertsieben Jahre alt - aber nicht er würde die Auswahl unter den Wettkämpfern treffen, sondern ein junger Wilder namens Atréju, ein Knabe aus dem Volk der Grünhäute, der bei Silbergreis Quérquobad zu Gast war. Dieser Atréju sollte auch später die Expedition führen. Er war nämlich der einzige, der den »Retter« erkennen konnte, weil er ihn einmal in einem Zauberspiegel gesehen hatte.
Bastian schwieg und hörte nur zu. Das fiel ihm nicht leicht, denn er hatte sehr bald begriffen, daß es sich bei dem »Retter« um ihn selbst handelte. Und als dann sogar Atréjus Name fiel, da lachte ihm das Herz im Leib, und er hatte die größte Mühe, sich nicht zu verraten. Aber er war entschlossen, vorläufig noch sein Inkognito zu wahren.
Übrigens ging es Held Hynreck bei der ganzen Angelegenheit nicht so sehr um die Suchexpedition und ihre Ziele, als darum, das Herz der Prinzessin Oglamár zu gewinnen. Bastian hatte sofort bemerkt, daß Held Hynreck bis über beide Ohren in die junge Dame verliebt war. Er seufzte ab und zu an Stellen, wo es gar nichts zu seufzen gab, und blickte seine Angebetete immer wieder mit traurigen Augen an. Und sie tat, als ob sie es nicht bemerke. Wie sich herausstellte, hatte sie nämlich bei irgendeiner Gelegenheit das Gelübde abgelegt, nur den größten aller Helden zum Mann zu nehmen, den, der alle anderen besiegen konnte. Mit weniger wollte sie sich nicht zufrieden geben. Das war Held Hynrecks Problem, denn wie sollte er ihr beweisen, daß er der Größte war. Er konnte schließlich nicht einfach jemand totschlagen, der ihm nichts getan hatte. Und Kriege hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Er hätte gern gegen Ungeheuer und Dämonen gekämpft, er hätte ihr, wenn es nach ihm gegangen wäre, jeden Morgen einen blutigen Drachenschwanz auf den Frühstückstisch gelegt, aber es gab weit und breit keine Ungeheuer und keine Drachen. Als der Bote von Silbergreis Quérquobad zu ihm gekommen war, um ihn zu dem Wettkampf einzuladen, hatte er natürlich sofort zugesagt. Prinzessin Oglamár aber hatte darauf bestanden, mitzukommen, denn sie wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, was er konnte.
»Den Berichten von Helden«, sagte sie lächelnd zu Bastian, »kann man bekanntlich nicht trauen. Sie haben alle einen Hang zum Ausschmücken.«
»Mit oder ohne Ausschmückung«, warf Held Hynreck ein, »bin ich jedenfalls hundertmal mehr wert als der sagenhafte Retter.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Bastian.
»Nun«, meinte Held Hynreck, »wenn der Bursche nur halb soviel Mark in den Knochen hätte wie ich, dann brauchte er keine Leibwache, die ihn behüten und betreuen muß wie ein Baby. Scheint mir ein ziemlich jämmerliches Kerlchen zu sein, dieser Retter.«
»Wie könnt Ihr so etwas sagen!« rief Oglamár entrüstet. »Schließlich hat er Phantásien vor dem Untergang bewahrt!«
»Und wenn schon!« erwiderte Held Hynreck geringschätzig. »Dazu wird wohl keine besondere Heldentat nötig gewesen sein.«
Bastian beschloß, ihm bei passender Gelegenheit einen kleinen Denkzettel zu verabfolgen.
Die drei anderen Herren waren erst unterwegs zufällig zu dem Paar gestoßen und hatten sich ihm angeschlossen. Hýkrion, der einen wilden schwarzen Schnurrbart trug, behauptete, der stärkste und gewaltigste Haudegen Phantásiens zu sein. Hýsbald, der rothaarig war und im Vergleich zu den anderen zart wirkte, behauptete, niemand ginge gewandter und flinker mit der Klinge um als er. Und Hýdorn schließlich war davon überzeugt, daß niemand ihm beim Kampf an Zähigkeit und Ausdauer gleichkäme. Seine Erscheinung gab dieser Behauptung recht, denn er war lang und mager und schien nur aus Sehnen und Knochen zu bestehen.
Nachdem die Mahlzeit beendet war, brach man auf. Geschirr, Tuch und Speisevorräte wurden in den Satteltaschen eines Saumtiers verstaut. Prinzessin Oglamár bestieg ihren weißen Zelter und trabte einfach fort, ohne sich nach den anderen umzusehen. Held Hynreck sprang auf seinen kohlschwarzen Hengst und galoppierte ihr nach. Die drei übrigen Herren schlugen Bastian vor, auf dem Saumtier zwischen den Vorratstaschen Platz zu nehmen. Er schwang sich hinauf, die Herren bestiegen ebenfalls ihre prächtig gezäumten Pferde, und dann ging es im Trab, Bastian als letzter, durch den Wald. Das Saumtier, eine ältere Mauleselin, blieb immer weiter zurück, und Bastian versuchte sie anzutreiben. Aber statt schneller zu laufen, blieb die Mauleselin stehen, wandte ihren Kopf zurück und sagte:
»Du brauchst mich nicht anzutreiben, ich bin absichtlich zurückgeblieben, Herr.«
»Warum?« fragte Bastian.
»Ich weiß, wer du bist, Herr.«
»Woher willst du das wissen?«
»Wenn man bloß ein halber Esel ist wie ich und kein ganzer, dann fühlt man so was. Sogar die Pferde haben etwas gemerkt. Du brauchst mir nichts zu sagen, Herr. Ich würde es gern meinen Kindern und Enkeln erzählen können, daß ich den Retter getragen und als erste begrüßt habe. Leider hat unsereins keine Kinder.«
»Wie heißt du?« fragte Bastian.
»Jicha, Herr.«
»Hör mal, Jicha, verdirb mir nicht den Spaß und behalte vorerst für dich, was du weißt. Willst du?«
»Gern, Herr.«
Und dann setzte die Mauleselin sich in Trab, um die anderen wieder einzuholen.
Die Gruppe wartete am Waldrand. Alle blickten bewundernd zu der Stadt Amargánth hinunter, die im Sonnenschein vor ihnen glänzte. Der Waldrand lag auf einer Anhöhe, und von hier aus hatte man einen weiten Ausblick über einen großen, fast veilchenblauen See, der zu allen Seiten von ähnlichen bewaldeten Hügeln umgeben war. Und mitten in diesem See lag die Silberstadt Amargánth. Alle Häuser standen auf Schiffen, die großen Paläste auf breiten Lastkähnen, die kleineren auf Barken und Booten. Und jedes Haus und jedes Schiff bestand aus Silber, aus feinziseliertem und kunstvoll verziertem Silber. Die Fenster und Türen der kleinen und großen Paläste, die Türmchen und Balkone, waren aus Silberfiligran so wundervoller Art, daß es in ganz Phantásien nicht seinesgleichen gab. Allenthalben auf dem See waren Boote und Barken zu sehen, die Besucher von den Ufern in die Stadt brachten. So beeilte sich nun auch Held Hynreck und seine Begleitung den Strand zu erreichen, wo eine Silberfähre mit herrlich geschwungenem Bug wartete.Die ganze Gesellschaft samt Pferden und Saumtier fand darauf Platz.
Unterwegs erfuhr Bastian von dem Fährmann, der übrigens ein Kleid aus Silbergewebe trug, daß die veilchenblauen Wasser des Sees so salzig und bitter waren, daß nichts auf die Dauer ihrer zersetzenden Wirkung widerstehen konnte - nichts, außer dem Silber. Der See hieß Murhu oder der Tränensee. In längst vergangenen Zeiten habe man die Stadt Amargánth mitten auf den See hinausgefahren, um sie gegen Überfälle zu sichern, denn wer auch immer auf Holzschiffen oder Eisenkähnen versucht habe, sie zu erreichen, sei untergegangen und verloren gewesen, weil das Wasser Schiff und Besatzung in kurzer Zeit aufgelöst habe. Aber jetzt habe man einen anderen Grund, Amargánth auf dem Wasser zu lassen. Die Bewohner liebten es nämlich, ihre Häuser ab und zu umzugruppieren und Straßen und Plätze neu zusammenzustellen. Wenn zum Beispiel zwei Familien, die an den entgegengesetzten Rändern der Stadt wohnten, sich befreundeten oder miteinander verwandt wurden, weil ihre jungen Leute heirateten, dann verließen sie ihren bisherigen Standort und legten ihre Silberschiffe einfach nebeneinander, wodurch sie Nachbarn wurden. Das Silber war, nebenbei bemerkt, besonderer Art und ebenso einmalig wie die unvergleichliche Schönheit seiner Bearbeitung.