Bastian hätte gern noch mehr darüber gehört, aber die Fähre war in der Stadt angekommen, und er mußte mit seinen Reisegenossen aussteigen.
Zunächst suchten sie nun eine Herberge, um Unterkunft für sich und ihre Tiere zu finden. Das war nicht ganz leicht, denn Amargánth war von Reisenden, die von nah und fern zu den Wettkämpfen gekommen waren, förmlich erobert. Aber schließlich fanden sie doch noch Platz in einem Gasthaus. Als Bastian die Mauleselin in den Stall führte, flüsterte er ihr noch ins Ohr:
»Vergiß nicht, was du versprochen hast, Jicha. Wir sehen uns bald wieder.«
Jicha nickte nur mit dem Kopf.
Danach erklärte Bastian seinen Reisegenossen, daß er ihnen nicht länger zur Last fallen wolle, sondern gern auf eigene Faust die Stadt besichtigen würde. Er bedankte sich bei ihnen für ihre Freundlichkeit und verabschiedete sich. In Wirklichkeit brannte er natürlich darauf, Atréju zu finden.
Die großen und kleinen Schiffe waren untereinander durch Stege verbunden, manche schmal und zierlich, so daß jeweils nur eine Person darüber gehen konnte, andere breit und prächtig wie Straßen, auf denen sich die Menge drängte. Es gab auch geschwungene Brücken mit Dächern darüber, und in den Kanälen zwischen den Palastschiffen fuhren Hunderte von kleinen Silbernachen hin und her. Doch wo man auch ging und stand, immerfort fühlte man unter den Sohlen ein leichtes Heben und Senken des Bodens, das einen daran erinnerte, daß die ganze Stadt auf dem Wasser schwamm.
Die Menge der Besucher, von der die Stadt schier überzukochen schien, war so bunt und vielgestaltig, daß ihre Beschreibung ein eigenes Buch füllen würde. Die Amargánther waren leicht zu erkennen, denn sie alle trugen die Kleidung aus Silbergewebe, das fast so schön war wie Bastians Mantel. Auch ihre Haare waren silbern, sie waren groß und wohlgestalt und hatten Augen, so veilchenblau wie Murhu, der Tränensee. Nicht ganz so schön war der größte Teil der Besucher. Da gab es muskelbepackte Riesen mit Köpfen, die zwischen ihren gewaltigen Schultern klein wie Äpfel aussahen. Da liefen finster und verwegen aussehende Nacht-Rabauken herum, einzelgängerische Kerle, denen man ansah, daß mit ihnen nicht gut Kirschen essen war. Da gab es Firlefänze mit flinken Augen und flinken Händen, und Berserker, die breitspurig daherkamen, und denen Rauch aus Mund und Nase stieg. Da wirbelten Spiegelfechter herum wie lebendige Kreisel, und Waldschratte trotteten auf knorrigen Beinen daher, dicke Keulen über den Schultern. Einmal sah Bastian sogar einen Felsenbeißer, dessen Zähne wie stählerne Meißel aus seinem Mund ragten. Der silberne Steg bog sich unter seinem Gewicht, als er seines Weges einherstampfte. Aber ehe Bastian ihn fragen konnte, ob er vielleicht Pjörnrachzarck hieß, war er im Gedränge verschwunden.
Schließlich erreichte Bastian das Zentrum der Stadt. Und hier war es, wo die Wettkämpfe stattfanden. Sie waren bereits in vollem Gang. Auf einem großen, runden Platz, der wie eine riesenhafte Zirkusarena aussah, maßen Hunderte von Wettkämpfern ihre Kräfte und zeigten, was sie konnten. Um das weite Rund drängte sich eine Menge von Zuschauern, welche die Wettkämpfer durch Zurufe anfeuerten, auch die Fenster und Balkone der umliegenden Schiffs-Paläste quollen fast über von Zuschauern, und manchen war es gar gelungen, auf die silberfiligrangeschmückten Dächer hinaufzuklettern.
Aber Bastian war zunächst nicht so sehr an dem Schauspiel interessiert, das die Wettkämpfer boten. Er wollte Atréju finden, der ja gewiß von irgendeinem Punkt aus den Spielen zusah. Und dann beobachtete er, daß die Menge immer wieder erwartungsvoll zu einem bestimmten Palast hinblickte - vor allem dann, wenn einem der Wettstreiter offenbar ein besonders eindrucksvolles Stückchen gelungen war. Aber Bastian mußte sich erst über eine der geschwungenen Brücken drängen und dann an einer Art Laternenpfahl emporklettern, ehe er einen Blick auf jenen Palast werfen konnte.
Auf einem breiten Balkon waren dort zwei hohe Stühle aus Silber aufgestellt. Auf dem einen saß ein sehr alter Mann, dessen silbernes Bart- und Haupthaar bis auf den Gürtel herabwallte. Das mußte Quérquobad, der Silbergreis, sein. Neben ihm saß ein Junge, etwa in Bastians Alter. Er trug lange Hosen aus weichem Leder, sein Oberkörper war nackt, so daß man seine olivgrüne Haut sehen konnte. Der Ausdruck des schmalen Gesichtes war ernst, ja beinahe streng. Das lange, blauschwarze Haar trug er in einem Schöpf, der mit Lederschnüren zusammengebunden war, auf dem Hinterkopf. Um seine Schultern lag ein purpurroter Mantel. Er blickte ruhig und doch eigentümlich angespannt auf den Kampfplatz hinunter. Nichts schien seinen dunklen Augen zu entgehen. Atréju!
In diesem Augenblick erschien in der offenen Balkontür hinter Atréju noch ein anderes, sehr großes Gesicht, das löwenähnlich aussah, nur daß es anstelle eines Fells weiße Perlmutterschuppen hatte und vom Maul lange weiße Barten herunterhingen. Die Augenbälle waren rubinrot und funkelten, und als sich der Kopf nun hoch über Atréju hob, sah man, daß er auf einem langen, geschmeidigen und ebenfalls mit Perlmutterschuppen bedeckten Hals saß, von dem eine Mähne wie weißes Feuer herunterfiel. Es war Fuchur, der Glücksdrache. Und er schien Atréju etwas ins Ohr zu sagen, denn dieser nickte.
Bastian ließ sich wieder von dem Laternenpfahl herabgleiten. Er hatte genug gesehen. Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit den Wettkämpfern zu.
Im Grunde genommen handelte es sich dabei nicht so sehr um wahre und wirkliche Kämpfe, als vielmehr um eine Art Zirkusvorstellung in großem Maßstab. Zwar gab es da gerade einen Ringkampf zwischen zwei Riesen, deren Leiber zu einem einzigen gewaltigen Knoten verschlungen waren, der hin und her rollte, zwar gab es da und dort Paare gleicher oder ganz verschiedener Art, die ihre Kunst im Schwertfechten oder im Handhaben der Keule oder der Lanze vorführten, aber natürlich gingen sie sich dabei nicht ernstlich an Leib und Leben. Es gehörte sogar auch zu den Spielregeln, zu zeigen, wie fair und anständig einer kämpfte und wie gut er sich in der Gewalt hatte. Ein Wettkämpfer, der sich aus Zorn oder Ehrgeiz hätte hinreißen lassen, seinen Kampfpartner ernstlich zu verletzen, wäre sowieso sofort für untauglich erklärt worden. Die meisten waren damit beschäftigt, ihre Fertigkeit im Bogenschießen zu beweisen, oder ihre Kräfte zu zeigen, indem sie riesige Gewichte stemmten, andere führten ihre Talente vor, indem sie akrobatische Kunststücke machten oder allerlei Mutproben ablegten. So verschiedenartig die Bewerber waren, so vielfältig war, was sie zeigten.
Immer wieder mußten einige, die übertroffen worden waren, den Platz verlassen, und so wurden es nach und nach immer weniger. Dann sah Bastian, daß Hýkrion, der Starke, Hýsbald, der Flinke, und Hýdorn, der Zähe, das Rund betraten. Held Hynreck und seine Angebetete, Prinzessin Oglamár, waren nicht bei ihnen.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch etwa hundert Wettkämpfer auf dem Platz. Da es sich bei diesen um die Auslese der Besten handelte, fiel es Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn nicht so leicht, wie sie vielleicht geglaubt hatten, sich gegen ihre Gegner zu behaupten. Es dauerte den ganzen Nachmittag, bis Hýkrion sich als der Mächtigste unter den Starken, Hýsbald als der Gewandteste unter den Flinken und Hýdorn als der Ausdauerndste unter den Zähen erwiesen hatte. Das Publikum jubelte und klatschte ihnen begeistert zu, und die drei verbeugten sich in Richtung des Balkons, wo der Silbergreis Quérquobad und Atréju saßen. Atréju erhob sich bereits, um etwas zu sagen, da trat plötzlich noch ein Wettkämpfer auf den Platz. Es war Hynreck. Gespannte Stille breitete sich aus, und Atréju setzte sich wieder. Da nur drei Männer ihn begleiten sollten, war nun dort unten einer zu viel. Einer von ihnen würde zurücktreten müssen.