Nein, sagte sich Bastian, er wollte durchaus nicht als der Schöpfer von Ungeheuern und Scheusalen in die Geschichte Phantásiens eingehen. Viel schöner wäre es, wenn er für seine Güte und Selbstlosigkeit berühmt wäre, wenn er das leuchtende Vorbild für alle darstellte, wenn man ihn den »guten Menschen« nennen oder wenn er als der »große Wohltäter« verehrt werden würde. Ja, das war es, was er sich wünschte.
Das Land war inzwischen felsig geworden, und Atréju, der auf Fuchur von einem Erkundungsflug zurückkam, meldete, er habe wenige Meilen voraus einen kleinen Talkessel erspäht, der verhältnismäßig guten Schutz gegen den Wind böte. Wenn er recht gesehen habe, so gäbe es dort sogar mehrere Höhlen, in denen man vor dem Regen und Schnee Unterschlupf finden könne.
Es war schon später Nachmittag und höchste Zeit, einen geeigneten Lagerplatz für die Nacht zu suchen. So waren alle über Atréjus Nachricht erfreut und trieben ihre Reittiere an. Der Weg verlief auf dem Grunde eines von immer höheren Felsen eingeschlossenen Tales, eines ausgetrockneten Flußbetts vielleicht. Nach etwa zwei Stunden war der Kessel erreicht und tatsächlich fanden sich mehrere Höhlen in den Wänden ringsum. Sie wählten die geräumigste und machten es sich darin behaglich, so gut es ging. Die drei Herren suchten in der Umgebung dürres Reisig und vom Sturm abgeknickte Äste zusammen, und bald brannte ein prächtiges Feuer in der Höhle. Die nassen Mäntel wurden zum Trocknen ausgebreitet, die Pferde und die Mauleselin hereingeholt und abgesattelt und sogar Fuchur, der sonst das Übernachten im Freien vorzog, rollte sich im Hintergrund der Höhle zusammen. Im Grunde war der Platz gar nicht so ungemütlich.
Während Hýdorn, der Zähe, ein großes Stück Fleisch aus ihrem Proviant an seinem langen Schwert über dem Feuer zu braten versuchte und alle ihm dabei erwartungsvoll zusahen, wandte sich Atréju an Bastian und bat:
»Erzähle uns mehr von Kris Ta!«
»Von wem?« fragte Bastian verständnislos.
»Von deiner Freundin Kris Ta, dem kleinen Mädchen, dem du deine Geschichten erzählt hast.«
»Ich kenne kein kleines Mädchen, das so heißt«, antwortete Bastian, »und wie kommst du darauf, daß ich ihr Geschichten erzählt hätte?«
Atréju schaute ihn wieder mit diesem nachdenklichen Blick an.
»In deiner Welt«, meinte er langsam, »hast du doch viele Geschichten erzählt - ihr und auch dir selbst.«
»Woher willst du das wissen, Atréju?«
»Du hast es gesagt. In Amargánth. Und du hast auch gesagt, daß man dich dafür oft ausgelacht hätte.«
Bastian starrte ins Feuer.
»Das ist richtig«, murmelte er, »ich hab's gesagt. Aber ich weiß nicht warum. Ich kann mich nicht daran erinnern.«
Es kam ihm selbst merkwürdig vor.
Atréju wechselte einen Blick mit Fuchur und nickte ernst, so als hätten die beiden etwas besprochen, was sich jetzt bestätigte. Aber er sagte nichts weiter. Offenbar wollte er vor den drei Herren nicht darüber reden.
»Das Fleisch ist fertig«, verkündete Hýdorn.
Er schnitt jedem mit dem Messer ein Stück ab und alle aßen. Daß es fertig gewesen wäre, konnte man zwar beim besten Willen nicht behaupten - es war außen etwas verkohlt und innen noch roh -, aber unter den gegebenen Umständen wäre es unangebracht gewesen, heikel zu sein.
Eine Zeitlang kauten alle, dann bat Atréju noch einmaclass="underline"
»Erzähle uns, wie du zu uns gekommen bist!«
»Das weißt du doch«, antwortete Bastian, »du hast mich doch zur Kindlichen Kaiserin gebracht.«
»Ich meine, vorher«, sagte Atréju, »in deiner Welt, wo warst du da, und wie ist alles gekommen?«
Und nun erzählte Bastian, wie er Herrn Koreander das Buch gestohlen hatte, wie er damit auf den Speicher des Schulhauses geflohen war und dort zu lesen begonnen hatte. Als er anfangen wollte, von Atréjus Großer Suche zu berichten, winkte dieser ab. Es schien ihn nicht zu interessieren, was Bastian über ihn gelesen haue. Statt dessen interessierte ihn höchlichst, Genaueres über das Wie und Warum von Bastians Besuch bei Koreander und seiner Flucht auf den Speicher des Schulhauses zu erfahren.
Bastian dachte angestrengt nach, aber er fand nichts mehr davon in seinem Gedächtnis. Alles, was damit zusammenhing, daß er Angst gehabt hatte, daß er dick und schwach und empfindlich gewesen war, hatte er vergessen. Seine Erinnerung war bruchstückhaft, und diese Bruchstücke schienen ihm so fern und undeutlich, als habe es sich nicht um ihn selbst, sondern um einen anderen gehandelt.
Atréju fragte ihn nach anderen Erinnerungen, und Bastian erzählte von den Zeiten, als seine Mutter noch gelebt hatte, vom Vater, von seinem Zuhause, von der Schule und seiner Stadt - was er eben noch wußte.
Die drei Herren waren schon m Schlaf gesunken, und Bastian erzählte immer noch. Es wunderte ihn, daß Atréju so großes Interesse gerade fürs Alltäglichste hatte. Vielleicht lag es an der Art, wie Atréju ihm zuhörte, daß auch ihm selbst die gewöhnlichsten und alltäglichsten Dinge nach und nach gar nicht mehr so alltäglich vorkamen, sondern so, als enthielten sie alle ein Geheimnis, das er nur nie bemerkt hatte.
Schließlich wußte er nichts mehr, ihm fiel nichts mehr ein, was er noch hätte erzählen können. Es war schon spät in der Nacht, das Feuer war heruntergebrannt. Die drei Herren schnarchten leise. Atréju saß mit reglosem Gesicht und schien in Nachdenken versunken.
Bastian streckte sich aus, wickelte sich in seinen Silbermantel und war eben am Einschlafen, als Atréju leise sagte:
»Es liegt an AURYN.«
Bastian stützte den Kopf auf eine Hand und sah den Freund schlaftrunken an.
»Was meinst du damit?«
»Der Glanz«, fuhr Atréju fort, als spräche er zu sich selbst, »wirkt bei unsereinem anders als bei einem Menschenkind.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das Zeichen gibt dir große Macht, es erfüllt dir alle deine Wünsche, aber zugleich nimmt es dir etwas: Die Erinnerung an deine Welt.«
Bastian dachte nach. Er empfand nicht, daß ihm etwas fehlte.
»Graógramán hat mir gesagt, ich muß den Weg der Wünsche gehen, wenn ich meinen Wahren Willen finden soll. Und das heißt die Inschrift auf AURYN. Aber dazu muß ich von einem Wunsch zum nächsten gehen. Ich kann keinen überspringen. Anders kann ich in Phantásien überhaupt nicht weiterkommen, hat er gesagt. Dazu brauche ich das Kleinod.«
»Ja«, sagte Atréju, »es gibt dir den Weg und nimmt dir gleichzeitig das Ziel.«
»Na«, meinte Bastian unbesorgt, »Mondenkind wird schon gewußt haben, was sie tat, als sie mir das Zeichen gab. Du machst dir unnötige Gedanken, Atréju. Ganz bestimmt ist AURYN keine Falle.«
»Nein«, murmelte Atréju, »das glaube ich auch nicht.«
Und nach einer Weile fügte er hinzu:
»Jedenfalls ist es gut, daß wir schon auf der Suche nach dem Weg in deine Welt sind. Das sind wir doch, nicht wahr?«