»Das ist ganz einfach - wollte er nicht immer schon mal auf mir reiten?«
Als die kleine Reisegesellschaft kurze Zeit später um eine Felsenecke bog, wurde sie dort von Atréju und dem Glücksdrachen erwartet. Die beiden hatten sich behaglich in die Sonne gelegt und blinzelten den Ankommenden entgegen.
Bastian hielt an und betrachtete sie.
»Seid ihr müde?« fragte er.
»Kein bißchen«, antwortete Atréju, »ich wollte dich nur fragen, ob du mich mal eine Zeitlang auf Jicha reiten läßt. Ich bin noch nie auf einem Maulesel geritten. Es muß ja ganz fabelhaft sein, da du es überhaupt nicht leid wirst. Du könntest mir dieses Vergnügen auch mal gönnen, Bastian. Ich leihe dir inzwischen meinen alten Fuchur.« Bastians Wangen röteten sich vor Freude. »Ist das wahr, Fuchur?« fragte er, »willst du mich tragen?« »Mit Vergnügen, großmächtiger Sultan!« dröhnte der Glücksdrache und zwinkerte mit einem Auge. »Steig auf und halt dich fest!«
Bastian sprang von der Mauleselin und schwang sich mit einem Satz auf Fuchurs Rücken. Er hielt sich in der silberweißen Mähne fest, und der Drache stieg in die Lüfte.
Bastian erinnerte sich noch gut an den Ritt auf Graógramán durch die Farbenwüste. Aber auf einem weißen Glücksdrachen zu reiten war noch etwas anderes. Wenn das Dahinrasen auf dem gewaltigen Feuerlöwen wie ein Rausch und ein Schrei gewesen war, so glich dieses weiche Auf und Nieder des biegsamen Drachenleibes einem Lied, das bald sanft und zärtlich war, bald machtvoll und strahlend. Besonders wenn Fuchur seine blitzschnellen Schleifen zog, bei denen seine Mähne, die Barten an seinem Maul und die langen Fransen an seinen Gliedmaßen wie weiße Flammen züngelten, glich sein Flug dem Gesang der Himmelslüfte. Bastians Silbermantel wehte im Flugwind hinter ihm drein und glitzerte im Sonnenlicht wie eine Spur von tausend Funken.
Gegen Mittag landeten sie bei den anderen, die inzwischen auf einem sonnenbeschienenen Felsplateau, über das ein Bächlein rauschte, das Lager aufgeschlagen hatten. Über einem Feuer dampfte bereits ein Kessel mit Suppe, dazu gab es Fladenbrot. Die Pferde und die Mauleselin standen abseits auf einer Wiese und grasten.
Nach dem Essen beschlossen die drei Herren, auf die Jagd zu gehen. Die Reisevorräte gingen zur Neige, vor allem das Fleisch. Sie hatten unterwegs Fasane schreien hören im Gehölz. Und Hasen schien es auch zu geben. Sie fragten Atréju, ob er nicht mitkommen wolle, da er doch als Grünhaut ein leidenschaftlicher Jäger sein müsse. Aber Atréju lehnte die Einladung dankend ab. So ergriffen die drei Herren ihre starken Bogen, schnallten sich die Köcher mit Pfeilen auf den Rücken und gingen in das nahe Wäldchen.
Atréju, Fuchur und Bastian blieben allein zurück.
Nach kurzem Schweigen schlug Atréju vor: »Wie war's, Bastian, wenn du uns wieder ein bißchen von deiner Welt erzählst?«
»Was würde euch denn interessieren?« fragte Bastian.
»Was meinst du, Fuchur?« wandte sich Atréju an den Glücksdrachen.
»Ich würde gerne etwas über die Kinder aus deiner Schule hören«, antwortete der.
»Welche Kinder?« Bastian war erstaunt.
»Die, die dich verspottet haben«, erklärte Fuchur.
»Kinder, die mich verspottet haben?« wiederholte Bastian noch erstaunter. »Ich weiß nichts von Kindern - und ganz bestimmt hätte keines gewagt, mich zu verspotten.«
»Aber daß du zur Schule gegangen bist«, warf jetzt Atréju ein, »das weißt du doch noch?«
»Ja«, sagte Bastian nachdenklich, »ich erinnere mich an eine Schule, das stimmt.«
Atréju und Fuchur wechselten einen Blick.
»Das habe ich befürchtet«, murmelte Atréju. !
»Was denn?«
»Du hast schon wieder ein Teil deiner Erinnerung verloren«, antwortete Atréju ernst, »diesmal hängt es mit der Verwandlung der Acharai in die Schlamuffen zusammen. Du hättest es nicht tun sollen.«
»Bastian Balthasar Bux«, ließ sich jetzt der Glücksdrache vernehmen und es klang beinahe feierlich, wie er sprach, »wenn du auf meinen Rat Wert legst, dann mache von jetzt an keinen Gebrauch mehr von der Macht, die AURYN dir gibt. Sonst läufst du Gefahr, auch noch deine letzten Erinnerungen zu vergessen -, und wie soll es dir dann noch gelingen, dorthin zurückzukehren, woher du gekommen bist?«
»Eigentlich«, gestand Bastian nach einigem Überlegen, »wünsche ich mir gar nicht, dorthin zurückzukehren.«
»Aber das mußt du!« rief Atréju erschrocken. »Du mußt zurück und versuchen, deine Welt in Ordnung zu bringen, damit wieder Menschen zu uns nach Phantásien kommen. Sonst geht Phantásien früher oder später von neuem zugrunde, und alles war umsonst!«
»Noch bin ich schließlich hier«, sagte Bastian ein wenig gekränkt, »ich habe Mondenkind vor kurzem erst den neuen Namen gegeben.«
Atréju schwieg.
»Jedenfalls«, mischte sich nun wieder Fuchur ins Gespräch, »ist jetzt klar, warum wir bisher nicht den kleinsten Hinweis gefunden haben, wie Bastian zurückkehren kann. Wenn er es sich gar nicht wünscht…!«
»Bastian«, sagte Atréju fast bittend, »gibt es denn nichts, was dich zurückzieht? Gibt es nichts, was du dort liebst? Denkst du denn nicht an deinen Vater, der sicher auf dich wartet und sich Sorgen um dich macht?«
Bastian schüttelte den Kopf.
»Das glaub' ich nicht. Vielleicht ist er sogar froh, mich los zu sein.«
Atréju schaute den Freund bestürzt an.
»Wenn man euch so hört«, sagte Bastian bitter, »dann könnte man fast glauben, ihr wollt mich auch nur los werden.«
»Wie meinst du das?« fragte Atréju mit belegter Stimme.
»Na ja«, antwortete Bastian, »ihr beide habt scheint's nur eine Sorge, nämlich wie ich möglichst bald wieder aus Phantásien verschwinde.«
Atréju sah Bastian an und schüttelte langsam den Kopf. Längere Zeit sagte keiner der drei ein Wort. Bastian begann schon zu bereuen, was er den beiden vorgeworfen hatte. Er wußte selbst, daß es nicht richtig war.
»Ich dachte«, sagte Atréju nach einer Weile leise, »wir sind Freunde.«
»Ja«, rief Bastian, »das sind wir auch, und wir werden es immer sein. Verzeiht mir, ich hab' Unsinn geredet.«
Atréju lächelte. »Du mußt uns auch verzeihen, wenn wir dich gekränkt haben. Es war nicht absichtlich.«
»Jedenfalls«, sagte Bastian versöhnlich, »werde ich euren Rat befolgen.«
Später kamen die drei Herren wieder. Sie hatten einige Rebhühner, einen Fasan und einen Hasen erlegt. Das Lager wurde abgebrochen und die Reise fortgesetzt. Bastian ritt jetzt wieder auf Jicha.
Nachmittags kamen sie in einen Wald, der nur aus graden, sehr hohen Stämmen bestand. Es waren Nadelbäume, die in großer Höhe ein so dichtes grünes Dach bildeten, daß kaum ein Lichtstrahl auf den Boden herunterfiel. Vielleicht gab es deshalb kein Unterholz.
Es war angenehm, auf diesem weichen, glatten Boden zu reiten. Fuchur hatte sich dazu bequemt, mit der Reisegesellschaft zu laufen, denn wenn er mit Atréju über die Baumspitzen geflogen wäre, so hätte er die anderen unweigerlich verloren.
Den ganzen Nachmittag über zogen sie im dunkelgrünen Dämmerlicht zwischen den hohen Stämmen hindurch. Gegen Abend fanden sie auf einem Hügel die Ruine einer Burg und entdeckten zwischen all den eingestürzten Türmen und Mauern, Brücken und Gemächern ein Gewölbe, das noch leidlich gut erhalten war. Hier richteten sie sich für die Nacht ein. Diesmal war der rothaarige Hýsbald als Koch an der Reihe, und es zeigte sich, daß er sich sehr viel besser darauf verstand. Der Fasan, den er über dem Feuer gebraten hatte, schmeckte ausgezeichnet.