Danach brachen sie auf, und schon nach wenigen Stunden, noch ehe es Mittag war, hatten sie den Waldrand erreicht.
Vor ihnen lag eine weite, ein wenig hügelige Graslandschaft, durch die sich ein Fluß schlängelte. Als sie ihn erreicht hatten, folgten sie seinem Lauf.
Atréju flog wieder wie früher auf Fuchur der Reitergruppe voraus und umkreiste sie in weitem Bogen, um den Weg zu erkunden. Aber beide waren sorgenvoll, und ihr Flug war weniger leicht als früher.
Als sie einmal sehr hoch gestiegen und weit vorausgeflogen waren, sahen sie, daß das Land in der Ferne wie abgeschnitten schien. Ein Felsenabsturz führte zu einer tiefer gelegenen Ebene, die - so weit man sehen konnte - dicht bewaldet war. Der Fluß stürzte in einem gewaltigen Wasserfall dort hinunter. Aber diese Stelle war für die Reiter frühestens am nächsten Tag zu erreichen.
Sie kehrten um.
»Glaubst du, Fuchur«, fragte Atréju, »daß es der Kindlichen Kaiserin gleichgültig ist was aus Bastian wird?«
»Wer weiß«, antwortete Fuchur, »sie macht keine Unterschiede.«
»Aber dann«, fuhr Atréju fort, »ist sie wahrlich eine…«
»Sprich es nicht aus!« unterbrach ihn Fuchur. »Ich weiß, was du meinst, aber sprich es nicht aus.«
Atréju schwieg eine Weile, ehe er sagte:
»Er ist mein Freund, Fuchur. Wir müssen ihm helfen. Auch gegen den Willen der Kindlichen Kaiserin, wenn es sein muß. Aber wie?«
»Mit Glück«, antwortete der Drache, und zum ersten Mal klang es, als habe die Bronzeglocke seiner Stimme einen Sprung.
An diesem Abend wurde eine leerstehende Blockhütte, die am Flußufer stand, als Raststätte für die Nacht erwählt. Für Fuchur war sie natürlich zu eng, und er zog es vor, wie früher so oft, in luftigen Höhen zu schlafen. Auch die Pferde und Jicha mußten draußen bleiben.
Während des Abendessens erzählte Atréju von dem Wasserfall und der merkwürdigen Stufe in der Landschaft, die er gesichtet hatte. Dann sagte er wie beiläufig:
»Übrigens sind Verfolger auf unserer Spur.«
Die drei Herren sahen sich an.
»Holla!« rief Hýkrion und zwirbelte unternehmungslustig seinen schwarzen Schnauzbart, »wie viele?«
»Hinter uns habe ich sieben gezählt«, antwortete Atréju, »aber sie können nicht vor morgen früh hier sein, vorausgesetzt, daß sie die Nacht durchreiten.«
»Sind sie bewaffnet?« wollte Hýsbald wissen.
»Das konnte ich nicht feststellen«, sagte Atréju, »aber es kommen noch mehr aus anderen Richtungen. Sechs habe ich im Westen gesehen, neun im Osten und zwölf oder dreizehn kommen uns entgegen.«
»Wir werden abwarten, was sie wollen«, meinte Hýdorn. »Fünfunddreißig oder sechsunddreißig Leute sind nicht mal für uns drei gefährlich, wieviel weniger für Herrn Bastian und Atréju.«
In dieser Nacht band Bastian das Schwert Sikánda nicht ab, wie er es bisher meist getan hatte. Er schlief mit dem Griff in der Faust. Im Traum sah er Mondenkinds Gesicht vor sich. Sie lächelte ihm verheißungsvoll zu. Mehr wußte er beim Aufwachen nicht mehr, aber der Traum bestärkte ihn in seiner Hoffnung, sie wiederzusehen.
Als er einen Blick aus der Tür der Blockhütte warf, sah er draußen im Morgennebel, der aus dem Fluß aufgestiegen war, undeutlich sieben Gestalten stehen. Zwei von ihnen waren zu Fuß, die anderen saßen auf verschiedenartigen Reittieren. Bastian weckte leise seine Gefährten.
Die Herren gürteten sich ihre Schwerter um, dann traten sie alle gemeinsam aus der Hütte. Als die draußen wartenden Gestalten Bastians ansichtig wurden, stiegen die Reiter ab, und dann ließen sich alle sieben gleichzeitig auf das linke Knie nieder. Sie neigten ihre Köpfe und riefen:
»Heil und Gruß dem Retter Phantásiens Bastian Balthasar Bux!«
Die Ankömmlinge sahen verwunderlich genug aus. Einer von den zweien, die unberitten waren, hatte einen ungewöhnlich langen Hals, auf dem ein Kopf mit vier Gesichtern saß, nach jeder Richtung eines. Das erste hatte einen heiteren Ausdruck, das zweite einen zornigen, das dritte einen traurigen und das vierte einen schläfrigen. Jedes der Gesichter war starr und unveränderlich, doch konnte er jeweils dasjenige Gesicht nach vorne drehen, das seinem augenblicklichen Gemütszustand entsprach. Es handelte sich bei ihm um einen Vier Viertel Troll, mancherorts auch Temperamentnik genannt.
Der andere Läufer war, was man in Phantásien einen Kephalopoden oder Kopffüßler nennt, ein Wesen nämlich, das nur einen Kopf besitzt, der von sehr langen und dünnen Beinen getragen wird, ohne Rumpf und Hände. Kopffüßler sind ständig auf Wanderschaft und haben keinen festen Wohnort. Meistens ziehen sie in Scharen zu vielen Hundert herum, selten trifft man einen Einzelgänger. Sie ernähren sich von Kräutern. Dieser hier, der nun vor Bastian kniete, sah jung und rotbackig aus. Drei andere Gestalten, die auf Pferden, kaum größer als Ziegen, saßen, waren ein Gnom, ein Schattenschelm und ein Wildweibchen. Der Gnom hatte einen goldenen Reif um die Stirn und war offensichtlich ein Fürst. Der Schattenschelm war schwer zu erkennen, denn er bestand eigentlich nur aus einem Schatten, den niemand warf. Das Wildweibchen hatte ein katzenhaftes Gesicht und lange goldblonde Locken, die es wie ein Mantel einhüllten. Sein ganzer Leib war mit einem ebenso goldblonden zotteligen Fell bedeckt. Es war nicht größer als ein fünfjähriges Kind.
Ein anderer Besucher, der auf einem Ochsen ritt, stammte aus dem Land der Sassafranier, die alt geboren werden und sterben, wenn sie Säuglinge geworden sind. Dieser hier hatte einen langen weißen Bart, eine Glatze und ein Gesicht voller Runzeln, er war also - nach sassafranischen Verhältnissen beurteilt - sehr jung, etwa in Bastians Alter.
Ein blauer Dschinn war auf einem Kamel gekommen. Er war lang und dünn und trug einen riesenhaften Turban. Seine Gestalt war menschlich, wenn auch sein nackter, muskelstrotzender Oberkörper aussah, als bestünde er aus einem glänzenden blauen Metall. Statt Nase und Mund hatte er einen mächtigen, gekrümmten Adlerschnabel im Gesicht.
»Wer seid ihr und was wollt ihr?« fragte Hýkrion ein wenig barsch. Er schien trotz der zeremoniellen Begrüßung nicht ganz von der Harmlosigkeit dieser Besucher überzeugt und hatte als einziger den Griff seines Schwertes noch nicht losgelassen.
Der Vier Viertel Troll, der bisher sein schläfriges Gesicht gezeigt hatte, drehte nun sein heiteres nach vorn, und sagte zu Bastian gewendet, wobei er Hýkrion überhaupt nicht beachtete:
»Herr, wir sind Fürsten aus sehr verschiedenen Ländern Phantásiens, jeder von uns hat sich aufgemacht, dich zu begrüßen und deine Hilfe zu erbitten. Die Nachricht von deiner Anwesenheit ist von Land zu Land geflogen, der Wind und die Wolken nennen deinen Namen, die Wellen der Meere verkünden deinen Ruhm mit ihrem Rauschen, und jedes Bächlein erzählt von deiner Macht.«
Bastian warf Atréju einen Blick zu, aber der sah ernst und fast streng den Troll an. Nicht das kleinste Lächeln spielte um seine Lippen.
»Wir wissen«, nahm nun der blaue Dschinn das Wort, und seine Stimme klang wie der scharfe Schrei eines Adlers, »daß du den Nachtwald Perelín geschaffen hast und die Farbenwüste Goab. Wir wissen, daß du vom Feuer des Bunten Todes gegessen und getrunken und darin gebadet hast, was niemand sonst in Phantásien lebend bestanden hätte. Wir wissen, daß du den Tempel der Tausend Türen durchwandert hast, und wir wissen, was in der Silberstadt Amargánth geschah. Wir wissen, Herr, daß du alles vermagst. Wenn du ein Wort sprichst, so ist da, was du willst. Darum laden wir dich ein, zu uns zu kommen und uns der Gnade einer eigenen Geschichte teilhaftig werden zu lassen. Denn wir alle haben noch keine.«