Der kleine Nachtalb landete mit seiner Fledermaus auf einer der unteren Terrassen, dort, wo die Stallungen für die Reittiere waren. Irgend jemand mußte seine Ankunft offenbar angekündigt haben, denn er wurde bereits von fünf kaiserlichen Tierwärtern erwartet, die ihm aus dem Sattel halfen, sich vor ihm verneigten und ihm dann schweigend den zeremoniellen Begrüßungstrunk reichten. Wúschwusul nippte nur ein wenig an dem Elfenbeinbecher, um der Form Genüge zu tun, dann gab er ihn zurück. Jeder der Wärter trank ebenfalls einen Schluck, dann verneigten sie sich abermals und brachten die Fledermaus in die Stallungen. All das geschah schweigend.
Als die Fledermaus den Platz erreicht hatte, der für sie vorgesehen war, rührte sie weder Trank noch Futter an, sondern rollte sich sogleich zusammen, hängte sich kopfunter an ihren Haken und fiel in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Es war ein bißchen viel gewesen, was der kleine Nachtalb ihr abverlangt hatte. Die Wärter ließen sie in Ruhe und gingen auf Zehenspitzen fort.
In diesem Stall gab es übrigens noch viele andere Reittiere: Einen rosa und einen blauen Elefanten, einen riesenhaften Vogel Greif, dessen vordere Körperhälfte einem Adler glich und die hintere einem Löwen, ein weißes geflügeltes Pferd, dessen Name früher einmal auch außerhalb Phantásiens bekannt war, aber jetzt vergessen ist, einige fliegende Hunde, auch ein paar andere Fledermäuse, ja sogar Libellen und Schmetterlinge für besonders kleine Reiter. In weiteren Stallgebäuden gab es noch andere Reittiere, die nicht flogen, sondern liefen, krochen, hüpften oder schwammen. Und jedes von ihnen hatte besondere Wächter zu seiner Pflege und Wartung.
Für gewöhnlich hätte man hier eigentlich ein beträchtliches Durcheinander von Stimmen hören müssen: Brüllen, Kreischen, Flöten, Piepsen, Quaken und Schnattern. Aber es herrschte völlige Stille.
Der kleine Nachtalb stand noch immer auf der Stelle, wo die Wärter ihn verlassen hatten. Er fühlte sich plötzlich niedergeschlagen und mutlos, ohne recht zu wissen warum. Auch er war sehr erschöpft von der langen, langen Reise. Und nicht einmal die Tatsache, daß er als erster angekommen war, munterte ihn auf.
»Hallo«, hörte er plötzlich ein piepsendes Stimmchen,»ist das nicht Freund Wúschwusul? Wie schön, daß Sie auch endlich hier sind.«
Der Nachtalb blickte sich um, und seine Mondaugen glühten vor Verwunderung auf, denn auf einer Balustrade, nachlässig gegen einen elfenbeinernen Blumentopf gelehnt, stand dort der Winzling Ückück und schwenkte seinen roten Zylinder.
»Huhu!« mächte der Nachtalb fassungslos und nach einer Weile noch einmal»huhu!« Es fiel ihm einfach nichts Gescheiteres ein.
»Die anderen beiden«, erklärte der Winzling,»sind bis jetzt noch nicht eingetroffen. Ich bin seit gestern morgen hier.«
»Wie - huhu! - wie hat man das gemacht?« fragte der Nachtalb.
»Nun ja«, meinte der Winzling und lächelte ein wenig überlegen,»ich sagte Ihnen doch, ich habe eine Renn-Schnecke.«
Der Nachtalb kratzte sich mit seiner kleinen rosa Hand das schwarze Fellgestrüpp auf seinem Kopf.
»Ich muß sofort zur Kindlichen Kaiserin«, sagte er weinerlich.
Der Winzling blickte ihn nachdenklich an.
»Hm«, machte er,»nun ja, ich habe mich schon gestern angemeldet.«
»Angemeldet?« fragte der Nachtalb.»Kann man denn nicht sofort zu ihr?«
»Ich fürchte, nein«, piepste der Winzling,»man muß lange warten. Es ist - wie soll ich sagen - ein enormer Andrang von Boten hier.«
»Huhu -«, wimmerte der Nachtalb,»wieso?«
»Am besten«, zwitscherte der Winzling,»Sie sehen sich die Sache selbst an. Kommen Sie, lieber Wúschwusul, kommen Sie!«
Sie machten sich zu zweit auf den Weg.
Die Hauptstraße, die in einer immer enger werdenden Spirale um den Elfenbeinturm aufwärts lief, war voll von einer dichtgedrängten Menge der seltsamsten Gestalten. Riesenhafte turbangeschmückte Dschinns, winzige Kobolde, dreiköpfige Trolle, bärtige Zwerge, leuchtende Feen, bocksbeinige Faune, Wildweibchen mit goldlockigem Fell, glitzernde Schneegeister und zahllose andere Wesen bewegten sich die Straße hinauf und hinunter, standen in Gruppen beieinander und redeten leise oder hockten auch stumm auf dem Boden und blickten trübselig vor sich hin.
Als Wúschwusul ihrer ansichtig wurde, blieb er stehen.
»Huhu!« sagte er,»was ist denn hier los? Was tun die alle hier?«
»Das sind alles Boten«, erklärte Ückück leise,»Boten aus allen Gegenden Phantásiens. Und alle haben die gleiche Botschaft wie wir. Ich habe schon mit vielen von ihnen gesprochen. Es scheint überall die gleiche Gefahr ausgebrochen zu sein.«
Der Nachtalb ließ ein langes wimmerndes Seufzen hören.
»Und weiß man denn«, fragte er,»was es ist und woher es kommt?«
»Ich fürchte, nein. Niemand kann es erklären.«
»Und die Kindliche Kaiserin selbst?«
»Die Kindliche Kaiserin -«, sagte der Winzling leise,»ist krank, sehr, sehr krank. Vielleicht ist das der Grund des unbegreiflichen Unglücks, das über Phantásien gekommen ist. Aber bis jetzt hat keiner der vielen Ärzte, die im Palastbezirk dort oben beim Magnolienpavillon versammelt sind, herausbekommen, woran sie erkrankt ist und was man dagegen tun kann. Niemand weiß ein Heilmittel.«
»Das«, sagte der Nachtalb dumpf,»- huhu! - ist eine Katastrophe.«
»Ja«, antwortete der Winzling,»das ist es.«
Unter diesen Umständen verzichtete Wúschwusul vorerst darauf, sich bei der Kindlichen Kaiserin anmelden zu lassen.
Zwei Tage später kam übrigens auch das Irrlicht Blubb an, das natürlich in die falsche Richtung gelaufen war und dadurch einen Riesenumweg gemacht hatte.
Und schließlich - weitere drei Tage später - traf auch der Felsenbeißer Pjörnrachzarck ein. Er kam zu Fuß dahergestampft, denn er hatte in einem plötzlichen Anfall von Heißhunger sein steinernes Fahrrad aufgegessen - als Reiseproviant sozusagen.
Während der langen Wartezeit befreundeten sich die vier ungleichen Boten innig und blieben auch späterhin zusammen.
Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
2.
Atréjus Berufung
Beratungen, die das Wohl und Wehe ganz Phantásiens betrafen, wurden für gewöhnlich im großen Thronsaal des Elfenbeinturms abgehalten, der innerhalb des eigentlichen Palastbezirks nur wenige Stockwerke unter dem Magnolienpavillon lag.
Jetzt war dieser weite, kreisrunde Raum von gedämpftem Stimmengewirr erfüllt. Die vierhundertneunundneunzig besten Ärzte des ganzen phantasischen Reiches waren hier versammelt und sprachen flüsternd oder raunend miteinander in kleineren oder größeren Gruppen. Jeder von ihnen hatte der Kindlichen Kaiserin seine Visite gemacht - die einen schon vor einiger Zeit, die anderen erst vor kurzem -, und jeder hatte versucht, ihr mit seiner Kunst zu helfen. Aber keinem war es gelungen, keiner kannte ihre Krankheit und deren Ursache, keiner wußte, wie man sie heilen konnte. Und der fünfhundertste, der berühmteste aller Ärzte Phantásiens, von dem die Sage ging, daß es kein Heilkraut, kein Zaubermittel und kein Geheimnis der Natur gäbe, das ihm nicht bekannt wäre, er war nun schon seit Stunden bei der Patientin, und alle erwarteten mit Spannung das Ergebnis seiner Untersuchung.