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Bastian überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Was ihr von mir erwartet, kann ich jetzt noch nicht tun. Später werde ich euch allen helfen. Aber zuerst muß ich die Kindliche Kaiserin treffen. Darum helft mir, den Elfenbeinturm zu finden!«

Die Wesen schienen keineswegs enttäuscht. Nach kurzer Beratung untereinander, erklärten sie sich alle höchst erfreut über Bastians Vorschlag, ihn zu begleiten. Und kurze Zeit später hatte sich der Zug, der nun schon einer kleinen Karawane glich, in Bewegung gesetzt.

Den ganzen Tag über stießen neue Ankömmlinge zu ihnen. Nicht nur die am Vortage von Atréju angekündigten Sendboten tauchten von allen Seiten auf, sondern noch viel mehr. Man sah bocksbeinige Faune und riesige Nachtalben, Elfen und Kobolde, Käferreiter und Dreibeiner, einen menschengroßen Hahn in Stulpenstiefeln und einen aufrechtgehenden Hirsch mit goldenem Geweih, der eine Art Frack trug. Überhaupt gab es unter den Neuankömmlingen eine Menge Wesen, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen Gestalten hatten. Da waren zum Beispiel kupferne Ameisen mit Helmen, bizarr geformte Wanderfelsen, Flötentiere, die auf ihren langen Schnäbeln musizierten, und auch drei sogenannte Pfützler, die sich auf recht erstaunliche Art fortbewegten, indem sie - wenn man so sagen kann - bei jedem Schritt zu einer Pfütze zerflossen und ihre Gestalt ein Stück weiter wieder neu zusammenzogen. Das merkwürdigste der neuangekommenen Wesen war jedoch vielleicht ein Zwie, dessen Vorder- und Hinterteil unabhängig voneinander herumlaufen konnte. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Nilpferd, nur daß er rot und weiß gestreift war.

Insgesamt waren es inzwischen schon an die hundert. Und alle waren gekommen, um Bastian, den Retter Phantásiens, zu begrüßen und ihn um eine eigene Geschichte zu bitten. Aber die ersten sieben hatten den neu Hinzugekommenen erklärt, daß die Reise zuerst zum Elfenbeinturm gehe, und alle waren bereit, mitzuziehen.

Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn ritten mit Bastian an der Spitze des nunmehr schon ziemlich langen Zuges.

Gegen Abend erreichten sie den Wasserfall. Und bei Einbruch der Nacht hatte der Zug die höher gelegene Ebene verlassen, war einen geschlängelten Bergpfad abwärts gezogen und befand sich nun in einem Wald aus baumgroßen Orchideen. Es waren gefleckte und ein wenig beunruhigend aussehende Riesenblüten. Deshalb wurde beschlossen, für alle Fälle Wachen über Nacht aufzustellen, als man das Lager aufschlug.

Bastian und Atréju hatten Moos, das überall reichlich wuchs, zusammengetragen und sich daraus ein weiches Lager gemacht. Fuchur legte sich in einem Ring um die beiden Freunde herum, den Kopf nach innen, so daß sie für sich und geschützt waren wie in einer großen Strandburg. Die Luft war warm und von einem eigentümlichen Duft erfüllt, der den Orchideen entströmte und nicht sehr angenehm war. Es lag etwas in ihm, das Unheil verkündete.

20.

Die Sehende Hand

Tautropfen funkelten an den Blüten und Blättern der Orchideen in der ersten Morgensonne, als die Karawane sich erneut in Bewegung setzte. In der Nacht hatte es keine Zwischenfälle gegeben, außer daß abermals neue Abgesandte zu den bisherigen hinzugekommen waren, so daß die ganze Schar nun schon an die dreihundert ausmachte. Es war wahrhaftig ein sehenswertes Schauspiel, den Zug dieser so verschiedenartigen Wesen zu beobachten.

Je weiter sie in den Orchideenwald eindrangen, desto unglaublichere Formen und Farben nahmen die Blüten an. Und bald stellten die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn fest, daß der beunruhigende Eindruck, der sie dazu veranlaßt hatte, Wachen aufzustellen, nicht ganz unbegründet gewesen war. Viele dieser Gewächse waren nämlich fleischfressende Pflanzen, groß genug, ein ganzes Kalb zu verschlingen. Zwar bewegten sie sich nicht von sich aus - insofern waren die Wachen unnötig gewesen - aber wenn man sie berührte, schnappten sie zu wie Schlageisen. Und ein paarmal mußten die Herren von ihren Schwertern Gebrauch machen, um den Arm oder Fuß eines Reisegenossen oder seines Reittiers zu befreien, indem sie die ganze Blüte abhieben und in Stücke schnitten.

Bastian, der auf Jicha ritt, war ständig dicht umdrängt von allen möglichen phantásischen Wesen, die sich ihm bemerkbar zu machen versuchten oder wenigstens einen Blick auf ihn werfen wollten. Aber Bastian ritt schweigend und mit verschlossenem Gesicht. Ein neuer Wunsch war in ihm erwacht, und zum ersten Mal war es einer, der ihn unnahbar und sogar düster erscheinen ließ.

Was ihn an Atréjus und Fuchurs Verhalten am meisten verdroß, trotz der Versöhnung, war die unbezweifelbare Tatsache, daß sie ihn wie ein unselbständiges Kind behandelten, für das sie sich verantwortlich fühlten und das sie gängeln und anleiten mußten. Wenn er es sich recht überlegte, dann war es schon vom ersten Tag ihres Zusammenseins an so gewesen. Wie kamen sie eigentlich dazu? Offenbar fühlten sie sich ihm aus irgendeinem Grund überlegen - auch wenn sie es dabei gut mit ihm meinten. Ohne Zweifel hielten Atréju und Fuchur ihn für einen harmlosen, schutzbedürftigen Jungen. Und das paßte ihm nicht, nein, das paßte ihm ganz und gar nicht! Er war nicht harmlos! Das sollten sie noch sehen! Er wollte gefährlich sein, gefährlich und gefürchtet! Einer, vor dem jeder sich in acht nehmen mußte - auch Fuchur und Atréju.

Der blaue Dschinn - er hieß übrigens Illuán - bahnte sich einen Weg durch das Gedränge rings um Bastian und verneigte sich mit auf der Brust überkreuzten Armen.

Bastian hielt an.

»Was gibt es, Illuán? Rede!«

»Herr«, sagte der Dschinn mit seiner Adlerstimme, »ich habe mich unter unseren neu hinzugekommenen Weggenossen etwas umgehört. Einige von ihnen behaupten, diese Gegend zu kennen und zu wissen, worauf wir uns zubewegen. Sie alle schlottern vor Angst, Herr.«

»Weshalb? Was ist es für eine Gegend?«

»Dieser Wald aus fleischfressenden Orchideen, Herr, heißt der Garten Oglais und gehört zum Zauberschloß Hórok, das auch die Sehende Hand genannt wird. Dort wohnt die mächtigste und schlimmste Magierin Phantásiens. Ihr Name ist Xayíde.«

»Es ist gut«, antwortete Bastian, »sage den Ängstlichen, daß sie sich beruhigen sollen. Ich bin bei ihnen.«

Illuán verneigte sich abermals und entfernte sich.

Ein wenig später landeten Fuchur und Atréju, die weit vorausgeflogen waren, neben Bastian. Der Heerzug machte gerade Mittagsrast.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, begann Atréju. »Drei bis vier Wegstunden voraus haben wir mitten im Orchideenwald ein Bauwerk gesehen, das wie eine große Hand aussieht, die aus dem Boden ragt. Es macht einen ziemlich unheimlichen Eindruck. Wenn wir die bisherige Richtung beibehalten, laufen wir genau darauf zu.«

Bastian berichtete, was er inzwischen durch Illuán wußte.

»In diesem Fall«, meinte Atréju, »wäre es vernünftiger, die Richtung zu ändern, meinst du nicht?«

»Nein«, sagte Bastian.

»Aber es gibt keinen Grund, der uns zwingt, mit Xayíde zusammenzutreffen. Es wäre besser, wir vermeiden die Begegnung.«

»Es gibt einen Grund«, sagte Bastian.

»Welchen?«

»Weil ich es möchte«, sagte Bastian.

Atréju schwieg und schaute ihn groß an. Da sich wieder von allen Seiten Phantasier herandrängten, um einen Blick von Bastian zu erhaschen, setzten sie das Gespräch nicht fort.