Aber nach dem Mittagsmahl kam Atréju zurück und schlug Bastian in scheinbar unbekümmertem Ton vor:
»Hättest du nicht Lust, mit mir zusammen auf Fuchur zu fliegen?«
Bastian verstand, daß Atréju etwas auf dem Herzen hatte. Sie schwangen sich auf den Rücken des Glücksdrachen, Atréju vorne, Bastian hinter ihm, und stiegen in die Luft empor. Es war das erste Mal, daß sie gemeinsam flogen.
Kaum waren sie außer Hörweite, als Atréju sagte:
»Es ist jetzt schwer, dich allein zu sprechen. Aber wir müssen unbedingt miteinander reden, Bastian.«
»Das hab' ich mir gedacht«, antwortete Bastian lächelnd. »Was gibt's denn?«
»Wohin wir da geraten sind«, begann Atréju zögernd, »und worauf wir uns da zubewegen - hängt das mit einem neuen Wunsch von dir zusammen?«
»Vermutlich«, erwiderte Bastian ein wenig kühl.
»Ja«, fuhr Atréju fort, »das haben wir uns schon gedacht, Fuchur und ich. Was für ein Wunsch mag das wohl sein?«
Bastian schwieg.
»Versteh mich nicht falsch«, fügte Atréju hinzu, »es handelt sich nicht darum, daß wir Angst vor irgend etwas oder irgendwem haben. Aber als deine Freunde machen wir uns Sorgen um dich.«
»Das ist unnötig«, gab Bastian noch kühler zurück.
Atréju schwieg längere Zeit. Schließlich wandte Fuchur den Kopf nach ihnen und sagte:
»Atréju hat einen sehr vernünftigen Vorschlag zu machen, den solltest du dir anhören, Bastian Balthasar Büx.«
»Habt ihr wieder einen guten Rat?« fragte Bastian mit spöttischem Lächeln.
»Nein, kein Rat, Bastian«, antwortete Atréju, »einen Vorschlag, der dir vielleicht im ersten Augenblick nicht gefallen wird. Aber du solltest erst darüber nachdenken, ehe du ihn ablehnst. Wir haben uns die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, wie wir dir helfen können. Alles liegt an der Wirkung, die das Zeichen der Kindlichen Kaiserin auf dich hat. Ohne AURYNS Macht kannst du dich nicht weiterwünschen, aber mit AURYNS Macht verlierst du dich selbst und erinnerst dich immer weniger daran, wohin du überhaupt willst. Wenn wir nichts tun, kommt der Moment, wo du es gar nicht mehr weißt.«
»Darüber haben wir schon gesprochen«, sagte Bastian, »was weiter?«
»Als ich damals das Kleinod trug«, fuhr Atréju fort, »war alles anders. Mich hat es geführt, und es hat mir nichts genommen. Vielleicht weil ich kein Mensch bin und deshalb keine Erinnerung an die Menschenwelt zu verlieren habe. Ich will sagen, es hat mir nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Und deshalb wollte ich dir vorschlagen, daß du mir AURYN gibst und dich meiner Führung einfach anvertraust. Ich werde deinen Weg für dich suchen. Was hältst du davon?«
»Abgelehnt!« sagte Bastian kalt.
Fuchur wandte wieder seinen Kopf zurück.
»Willst du nicht wenigstens einen Augenblick darüber nachdenken?«
»Nein«, antwortete Bastian, »wozu?«
Jetzt wurde Atréju zum ersten Mal zornig.
»Bastian, nimm Vernunft an! Du mußt einsehen, daß du so nicht weitermachen kannst! Merkst du denn nicht, daß du dich ganz verändert hast? Was hast du überhaupt noch mit dir selbst zu tun? Und was wird noch aus dir werden?«
»Danke schön«, sagte Bastian, »vielen Dank, daß ihr euch pausenlos um meine Angelegenheiten kümmert! Aber es wäre mir, ehrlich gesagt, sehr viel lieber, wenn ihr mich endlich damit verschonen würdet. Ich - falls ihr das vergessen habt - ich bin nämlich der, der Phantásien gerettet hat, ich bin der, dem Mondenkind ihre Macht anvertraut hat. Und irgendeinen Grund muß sie dafür wohl gehabt haben, sonst hätte sie AURYN ja dir lassen können, Atréju. Aber sie hat dir das Zeichen abgenommen und hat es mir gegeben! Ich hab' mich verändert, sagst du? Ja, mein lieber Atréju, da kannst du schon recht haben! Ich bin nicht mehr der harmlose und nichtsahnende Tropf, den ihr in mir seht! Soll ich dir sagen, warum du AURYN in Wahrheit von mir haben willst? Weil du ganz einfach eifersüchtig auf mich bist, nichts als eifersüchtig. Ihr kennt mich noch nicht, aber wenn ihr in dieser Art weitermacht - ich sage es euch noch einmal im Guten - dann werdet ihr mich kennenlernen!«
Atréju antwortete nicht. Fuchurs Flug hatte plötzlich alle Kraft verloren, er schleppte sich mühsam durch die Luft und sank tiefer und tiefer wie ein angeschossener Vogel.
»Bastian«, brachte Atréju schließlich mit Mühe heraus, »was du da eben gesagt hast, kannst du nicht ernstlich glauben. Wir wollen es vergessen. Es ist nie gesagt worden.«
»Na gut«, antwortete Bastian, »wie du willst. Ich habe nicht damit angefangen. Aber meinetwegen: Schwamm drüber.«
Eine Weile sagte keiner mehr ein Wort.
In der Ferne tauchte vor ihnen aus dem Orchideenwald Schloß Hórok auf. Es sah tatsächlich wie eine riesige Hand mit fünf gerade hochgestreckten Fingern aus.
»Aber eins möchte ich doch noch ein für allemal klarstellen«, sagte Bastian unvermittelt, »ich habe mich entschlossen, überhaupt nicht zurückzukehren. Ich werde in Phantásien für immer bleiben. Mir gefällt es sehr gut hier. Und auf meine Erinnerungen kann ich deshalb leicht verzichten. Und was Phantásiens Zukunft betrifft: Ich kann der Kindlichen Kaiserin tausend neue Namen geben. Wir brauchen die Menschenwelt nicht mehr!«
Fuchur machte plötzlich ein scharfe Wendung und flog zurück.
»He!« rief Bastian, »was tust du? Flieg weiter! Ich will Hórok aus der Nähe sehen!«
»Ich kann nicht mehr«, antwortete Fuchur mit geborstener Stimme, »ich kann wirklich nicht mehr.«
Als sie später bei der Karawane landeten, fanden sie die Weggenossen in großer Aufregung. Es stellte sich heraus, daß der Zug überfallen worden war, und zwar von einer Bande von etwa fünfzig großmächtigen Kerlen, die in schwarzen insektenartigen Panzern oder Rüstungen steckten. Viele der Wegbegleiter waren geflohen und kehrten nun erst einzeln oder in Gruppen zurück, andere hatten sich tapfer zur Wehr gesetzt, ohne aber auch nur das mindeste ausrichten zu können. Diese gepanzerten Riesen hatten jede Gegenwehr zunichte gemacht, als handle es sich für sie um ein Kinderspiel. Die drei Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn hatten sich heldenhaft geschlagen, ohne jedoch auch nur einen einzigen der Gegner zu überwinden. Schließlich waren sie, von der Übermacht bezwungen, entwaffnet, in Ketten gelegt und fortgeschleift worden. Einer der schwarz Gepanzerten hatte mit einer eigentümlich blechernen Stimme folgendes gerufen:
»Dies ist die Botschaft von Xayíde, der Herrin auf Schloß Hórok, an Bastian Balthasar Bux. Sie fordert, daß der Retter sich ihr bedingungslos unterwirft und ihr mit allem, was er ist, was er hat und was er kann, als treuer Sklave zu dienen schwört. Ist er dazu aber nicht bereit und sollte er auf irgendeine List sinnen, um den Willen Xayídes zu vereiteln, so werden seine drei Freunde Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn eines langsamen, schmählichen und grausamen Todes unter der Folter sterben. Er möge sich also rasch besinnen, denn die Frist läuft morgen mit Aufgang der Sonne ab. Dies ist die Botschaft von Xayíde, Herrin auf Schloß Hórok, an Bastian Balthasar Bux. Sie ist überbracht.«
Bastian biß sich auf die Lippen. Atréju und Fuchur blickten starr vor sich hin, aber Bastian wußte genau, was sie beide dachten. Und gerade, daß sie sich nichts anmerken ließen, brachte ihn innerlich noch mehr auf. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sie deshalb zur Rede zu stellen. Später würde sich noch die passende Gelegenheit finden.