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»Großer Wissender«, erklärte eine der Eulen, »wir sind nur arme unwissende Flugboten und gehören nicht einmal zum niedersten Rang der Mönche der Erkenntnis. Wie könnten wir dir die Frage mitteilen, die die drei Tief Sinnenden in ihrem langen Leben nicht lösen konnten.«

Nach wenigen Minuten kam Illuán mit Atréju und Xayíde zurück. Er hatte ihnen unterwegs rasch erklärt, worum es ging.

Als Atréju vor Bastian stand, fragte er leise:

»Warum ich?«

»Ja«, erkundigte sich auch Xayíde, »warum er?«

»Das werdet ihr erfahren«, entgegnete Bastian.

Es zeigte sich, daß die Eulen vorausschauenderweise drei Trapeze mitgebracht hatten. Je zwei von ihnen ergriffen nun mit ihren Krallen die Seile, an denen diese Trapeze hingen, Bastian, Atréju und Xayíde setzten sich auf die Stangen, und die großen Nachtvögel erhoben sich mit ihnen in die Luft.

Als sie das Sternenkloster Gigam erreichten, zeigte sich, daß die große Kuppel nur der oberste Teil eines sehr weitläufigen Gebäudes war, das sich aus vielen würfelartigen Trakten zusammensetzte. Es hatte zahllose kleine Fenster und stand mit der hohen Außenmauer direkt an einem Felsenabsturz. Für ungebetene Besucher war es schwer oder gar nicht zugänglich.

In den würfelartigen Trakten lagen die Zellen der Mönche der Erkenntnis, die Bibliotheken, die Wirtschaftsräume und die Unterkünfte für die Boten. Unter der großen Kuppel befand sich der Versammlungssaal, in dem die drei Tief Sinnenden ihre Lehrstunden abhielten.

Die Mönche der Erkenntnis waren Phantasier der verschiedensten Gestalt und Herkunft. Aber wenn sie in dieses Kloster eintreten wollten, so mußten sie jede Verbindung mit ihrem Land und ihrer Familie abbrechen. Das Leben dieser Mönche war hart und entsagungsvoll und einzig und allein der Weisheit und der Erkenntnis gewidmet. Bei weitem nicht jeder, der es wollte, wurde in die Gemeinschaft aufgenommen. Die Prüfungen waren streng und die drei Tief Sinnenden unerbittlich. So kam es, daß fast nie mehr als dreihundert Mönche hier lebten, doch bildeten diese dadurch die Auslese der Klügsten in ganz Phantásien. Es hatte schon Zeiten gegeben, wo die Bruder- und Schwesternschaft auf nur sieben Mitglieder zusammengeschrumpft war. Doch hatte das nichts an der Strenge der Prüfungen geändert. Zur Zeit war die Anzahl der Mönche und Mönchinnen etwas über zweihundert.

Als Bastian, gefolgt von Atréju und Xayíde, nun in den großen Lehrsaal geführt wurde, sah er eine buntgemischte Menge aller möglichen phantásischen Wesen vor sich, die sich nur dadurch von seiner eigenen Gefolgschaft unterschied, daß alle, gleich welcher Gestalt, in rauhe, schwarzbraune Kutten gekleidet waren. Man mag sich vorstellen, wie das zum Beispiel bei einem der schon früher erwähnten Wanderfelsen oder einem Winzling aussah.

Die drei Oberen aber, die Tief Sinnenden, hatten menschliche Gestalt. Nicht menschlich waren dagegen ihre Köpfe. Uschtu, die Mutter der Ahnung, hatte ein Eulengesicht. Schirkrie, der Vater der Schau, hatte einen Adlerkopf. Und Jisipu endlich, der Sohn der Klugheit, hatte den Kopf eines Fuchses. Sie saßen auf erhöhten Stühlen aus Stein und wirkten sehr groß. Atréju und sogar Xayíde schienen bei ihrem Anblick von Scheu befallen zu werden. Aber Bastian trat gelassen auf sie zu. Tiefe Stille herrschte in dem großen Saal.

Schirkrie, der offenbar der Älteste der drei war und in der Mitte saß, wies langsam mit der Hand auf einen leerstehenden Thronsessel, der den ihren gegenüberstand. Bastian nahm darauf Platz.

Nach einem längeren Schweigen begann Schirkrie zu reden. Er sprach leise, und seine Stimme klang überraschenderweise tief und voll.

»Seit Urzeiten sinnen wir nach über das Rätsel unserer Welt. Jisipu denkt anders darüber, als Uschtu erahnt, und Uschtus Ahnung lehrt anderes, als ich erschaue, und wiederum schaue ich anderes, als Jisipu denkt. So soll es nicht länger sein. Darum haben wir dich, den Großen Wissenden, gebeten, zu uns zu kommen und uns zu lehren. Willst du unsere Bitte erfüllen?«

»Ich will es«, sagte Bastian.

»So höre denn, Großer Wissender, unsere Frage: Was ist Phantásien?«

Bastian schwieg eine Weile, dann antwortete er:

»Phantásien ist die Unendliche Geschichte.«

»Gib uns Zeit, deine Antwort zu verstehen«, sagte Schirkrie. »Wir wollen uns morgen zur selben Stunde hier wieder treffen.«

Schweigend erhoben sich alle, die drei Tief Sinnenden und auch alle Mönche der Erkenntnis, und gingen hinaus.

Bastian, Atréju und Xayíde wurden in Gästezellen geführt, wo auf jeden ein schlichtes Mahl wartete. Die Lagerstätten waren einfache Holzpritschen mit rauhen Wolldecken. Bastian und Atréju machte das natürlich nichts aus, nur Xayíde hätte sich gern ein angenehmeres Bett gezaubert, aber sie mußte feststellen, daß ihre magischen Kräfte in diesem Kloster nicht wirkten.

In der nächsten Nacht zur festgesetzten Stunde versammelten sich wieder alle Mönche und die drei Tief Sinnenden in dem großen Kuppelsaal. Bastian setzte sich wieder auf den Thronsessel, Xayíde und Atréju standen links und rechts von ihm.

Diesmal war es Uschtu, die Mutter der Ahnung, die Bastian groß mit ihren Eulenaugen ansah und sprach:

»Wir haben über deine Lehre nachgedacht, Großer Wissender. Doch hat sich uns eine neue Frage ergeben. Wenn Phantásien die Unendliche Geschichte ist, wie du sagst, wo steht diese Unendliche Geschichte geschrieben?«

Wiederum schwieg Bastian eine Weile und antwortete dann:

»In einem Buch, das in kupferfarbene Seide gebunden ist.«

»Gib uns Zeit, deine Worte zu verstehen«, sagte Uschtu. »Wir wollen uns morgen zur selben Stunde hier wieder treffen.«

Alles geschah wie in der vorhergehenden Nacht. Und in der darauffolgenden, als sie sich alle wiederum im Lehrsaal versammelt hatten, nahm Jisipu, der Sohn der Klugheit, das Wort:

»Auch diesmal haben wir über deine Lehre nachgedacht, Großer Wissender. Und wiederum stehen wir ratlos vor einer neuen Frage. Wenn unsere Welt Phantásien eine Unendliche Geschichte ist, und wenn diese Unendliche Geschichte in einem kupferfarbenen Buch steht - wo befindet sich dann dieses Buch?«

Und nach kurzem Schweigen antwortete Bastian:

»Auf dem Speicher eines Schulhauses.«

»Großer Wissender«, versetzte Jisipu, der Fuchsköpfige, »wir zweifeln nicht an der Wahrheit dessen, was du uns sagst. Und doch wollen wir dich bitten, uns diese Wahrheit sehen zu lassen. Kannst du das?«

Bastian überlegte, dann sagte er:

»Ich glaube, ich kann es.«

Atréju blickte Bastian überrascht an. Auch Xayíde hatte einen fragenden Ausdruck in ihren verschiedenfarbigen Augen.

»Wir wollen uns morgen nacht um dieselbe Stunde wiedertreffen«, sagte Bastian, »aber nicht hier im Lehrsaal, sondern draußen auf den Dächern des Sternenklosters Gigam. Und ihr müßt aufmerksam und ohne Unterlaß den Himmel betrachten.«

In der darauffolgenden Nacht - sie war ebenso sternenklar wie die drei vorhergehenden - standen alle Mitglieder der Bruderschaft, einschließlich der drei Tief Sinnenden, zur festgesetzten Stunde auf den Dächern des Klosters und blickten mit zurückgebeugten Köpfen in den Nachthimmel empor. Auch Atréju und Xayíde, die beide nicht wußten, was Bastian vorhatte, befanden sich unter ihnen.

Bastian aber kletterte auf den höchsten Punkt der großen Kuppel hinauf. Als er oben stand, schaute er weit herum - und in diesem Augenblick sah er zum ersten Mal, fern, fern am Horizont und im Mondlicht feenhaft schimmernd, den Elfenbeinturm.