Er nahm den Stein Al' Tsahir aus seiner Tasche, der mild leuchtete. Bastian rief sich die Worte der Inschrift ins Gedächtnis zurück, die an der Tür der Bibliothek von Amargánth gestanden hatten:
»…doch spricht er meinen Namen noch ein zweites Mal
vom Ende zum Anfang,
verstrahl' ich hundert Jahre Leuchten
in einem Augenblick« .
Er hielt den Stein hoch empor und rief:
»Rihast'la!«
Im gleichen Moment gab es einen Blitz von solcher Helligkeit, daß der Sternenhimmel verblaßte und der dunkle Weltraum dahinter erleuchtet wurde. Und dieser Raum war der Speicher des Schulhauses mit seinen altersschwarzen, mächtigen Balken. Dann war es vorüber. Das Licht von hundert Jahren war verstrahlt. Al'Tsahir war ohne Rest verschwunden.
Alle, auch Bastian, brauchten erst eine Weile, bis ihre Augen sich wieder an das schwache Leuchten des Mondes und der Sterne gewöhnt hatten.
Erschüttert von der Vision versammelten sich alle schweigend im großen Lehrsaal. Als letzter kam Bastian. Die Mönche der Erkenntnis und die drei Tief Sinnenden erhoben sich von ihren Plätzen und verneigten sich tief und lange vor ihm.
»Es gibt keine Worte«, sagte Schirkrie, »mit denen ich dir für den Blitz der Erleuchtung danken könnte, Großer Wissender. Denn ich habe auf jenem geheimnisvollen Speicher ein Wesen meiner Art erblickt, einen Adler.«
»Du irrst dich, Schirkrie«, widersprach ihm mit mildem Lächeln die eulengesichtige Uschtu, »ich habe genau gesehen, daß es eine Eule war.«
»Ihr beide täuscht euch«, fiel ihr Jisipu mit leuchtenden Augen ins Wort, »das Wesen dort ist mir verwandt. Es ist ein Fuchs.«
Schirkrie hob abwehrend die Hände.
»Da sind wir nun wieder, wo wir vorher waren«, sagte er. »Nur du kannst uns auch diese Frage beantworten, Großer Wissender. Wer von uns dreien hat recht?«
Bastian lächelte kühl und sagte:
»Alle drei.«
»Gib uns Zeit, deine Antwort zu verstehen«, bat Uschtu.
»Ja«, erwiderte Bastian, »so viel Zeit wie ihr wollt. Denn wir werden euch nun verlassen.«
Enttäuschung lag auf den Gesichtern der Mönche der Erkenntnis und auch ihrer drei Oberen, aber Bastian lehnte ihre inständige Bitte, lang oder besser noch für immer bei ihnen zu bleiben, gleichmütig ab.
So wurde er denn mit seinen beiden Schülern hinausbegleitet, und die Flugboten brachten sie in die Zeltstadt zurück.
In dieser Nacht begann übrigens im Sternenkloster Gigam eine erste grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen den drei Tief Sinnenden, die viele Jahre später dazu führte, daß die Bruderschaft aufgelöst wurde und Uschtu, die Mutter der Ahnung, Schirkrie, der Vater der Schau, und Jisipu, der Sohn der Klugheit, jeweils ein eigenes Kloster gründeten. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Bastian aber hatte von dieser Nacht an jede Erinnerung daran verloren, daß er je in eine Schule gegangen war. Auch der Speicher und sogar das gestohlene Buch mit dem kupferfarbenen Seideneinband waren aus seinem Gedächtnis verschwunden. Und er fragte sich nicht mehr, wie er überhaupt nach Phantásien gekommen war.
22.
Die Schlacht um den Elfenbeinturm
Vorausgeschickte Späher kehrten ins Lager zurück und berichteten, daß man dem Elfenbeinturm nun schon sehr nahe sei. Mit zwei, höchstens drei beschleunigten Tagesmärschen könnte man ihn erreichen.
Aber Bastian schien unentschlossen. Er ließ öfter Rast machen als bisher, um dann plötzlich wieder überstürzt aufzubrechen. Keiner im Heerzug seiner Begleiter verstand den Grund, aber keiner wagte ihn natürlich danach zu fragen. Seit seiner großen Tat im Sternenkloster war er unnahbar geworden, sogar für Xayíde. Im Heerlager gingen allerlei Vermutungen um, aber die meisten Weggenossen fügten sich willig seinen widersprüchlichen Befehlen. Große Weise - so meinten sie - erschienen normalen Wesen oft unberechenbar. Auch Atréju und Fuchur konnten sich Bastians Verhalten nicht mehr erklären. Die Sache im Sternenkloster ging beiden über den Verstand. Aber das vermehrte nur ihre Sorge um ihn.
In Bastian lagen zwei Empfindungen im Kampf miteinander, und keine von beiden konnte er zum Schweigen bringen. Er sehnte sich danach, mit Mondenkind zusammenzutreffen. Er war jetzt in ganz Phantásien berühmt und bewundert und konnte ihr als Ebenbürtiger gegenübertreten. Aber zugleich erfüllte ihn die Sorge, daß sie AURYN von ihm zurückverlangen würde. Und was dann? Würde sie versuchen, ihn zurückzuschicken in die Welt, von der er nun kaum noch etwas wußte? Er wollte nicht zurück! Und er wollte das Kleinod behalten! - Dann wieder kam ihm der Gedanke, daß es ja durchaus nicht gesagt war, daß sie es zurückhaben wollte. Vielleicht ließ sie es ihm, solang er wollte. Vielleicht hatte sie es ihm ja überhaupt geschenkt, und es gehörte für immer ihm. In solchen Augenblicken konnte er es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Er trieb den Heerzug an, um schneller bei ihr zu sein. Doch schon überkamen ihn wieder Zweifel, und er ließ anhalten und Rast machen, um sich klar zu werden, womit er zu rechnen hatte.
So, in abwechselnd hastigen und überstürzten Märschen und stundenlangen Verzögerungen, hatte man schließlich den äußeren Rand des berühmten Labyrinths erreicht, jener weiten Ebene, die ein einziger Blumengarten voll verschlungener Pfade und Wege war. Am Horizont leuchtete in feenhaftem Weiß gegen den golden schimmernden Abendhimmel der Elfenbeinturm.
Die ganze phantasische Schar und auch Bastian standen in andächtigem Schweigen und genossen die unbeschreibliche Schönheit dieses Anblicks. Sogar auf Xayídes Gesicht lag ein Ausdruck von Staunen, den es noch nie zuvor gezeigt hatte und der freilich auch bald wieder verschwand. Atréju und Fuchur, die ganz im Hintergrund standen, erinnerten sich daran, wie anders das Labyrinth ausgesehen hatte, als sie das letztemal hiergewesen waren: zerfressen von der Todeskrankheit des Nichts. Jetzt schien es blühender und schöner und leuchtender als j e zuvor.
Bastian beschloß, für diesen Tag nicht mehr weiterzuziehen, und so wurde das Nachtlager aufgeschlagen. Er schickte einige Boten aus, die Mondenkind seinen Gruß überbringen und ihr ankündigen sollten, daß er am folgenden Tag in den Elfenbeinturm einzuziehen gedächte. Dann legte er sich in seinem Zelt nieder und versuchte zu schlafen. Er wälzte sich auf seinen Kissen hin und her und seine Besorgnisse ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er ahnte nicht, daß diese Nacht noch aus ganz anderen Gründen die schlimmste seines bisherigen Daseins in Phantásien werden sollte.
Gegen Mitternacht war er endlich in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen, als ihn ein aufgeregtes Raunen und Wispern vor dem Eingang seines Zeltes aufschrecken ließ. Er erhob sich und trat hinaus.
»Was gibt es?« fragte er streng.
»Dieser Bote hier«, antwortete Illuán, der blaue Dschinn, »behauptet, dir eine Nachricht überbringen zu müssen, die so wichtig sei, daß er nicht bis morgen warten dürfe.«
Der Bote, den Illuán am Kragen hochgehoben hatte, war ein kleiner Hurtling, ein Wesen, das gewisse Ähnlichkeit mit einem Kaninchen aufwies, nur daß es anstelle eines Fells ein knallbuntes Federkleid hatte. Hurtlinge gehören zu den schnellsten Läufern Phantásiens und können ungeheure Strecken in solcher Geschwindigkeit zurücklegen, daß man sie dabei praktisch nicht sehen, sondern ihr Vorüberzischen nur an einer Spur von aufgewirbelten Staubwölkchen bemerken kann. Eben wegen dieser Fähigkeit war der Hurtling hier zum Boten gemacht worden. Er hatte die ganze Strecke zum Elfenbeinturm und wieder zurück hinter sich und hechelte atemlos, als der Dschinn ihn vor Bastian hinstellte.