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Nun darf man sich eine solche Versammlung natürlich nicht so vorstellen wie einen menschlichen Ärztekongreß. Zwar gab es in Phantásien sehr viele Wesen, die in ihrer äußeren Gestalt mehr oder weniger menschenähnlich waren, aber es gab mindestens ebenso viele, die Tieren oder überhaupt völlig anders gearteten Geschöpfen glichen. So vielgestaltig die Menge der Boten war, die sich draußen tummelte, so mannigfaltig war auch die Gesellschaft hier im Saal. Es gab Zwergenärzte mit weißen Barten und Buckeln, es gab Feenärztinnen in blausilbern schimmernden Gewändern und mit funkelnden Sternen im Haar, es gab Wassermänner mit dicken Bäuchen und Schwimmhäuten an Händen und Füßen (für sie waren eigens Sitzbadewannen aufgestellt worden), aber es gab auch weiße Schlangen, die sich auf dem langen Tisch in der Mitte des Saales zusammengeringelt hatten, es gab Bienenelfen, ja sogar Hexer, Vampire und Gespenster, die im allgemeinen nicht als besonders wohltätig und gesundheitsfördernd gelten.

Um die Anwesenheit dieser letzteren zu begreifen, muß man unbedingt etwas wissen:

Die Kindliche Kaiserin galt zwar - wie ihr Titel ja schon sagt - als die Herrscherin über all die unzähligen Länder des grenzenlosen phantásischen Reiches, aber sie war in Wirklichkeit viel mehr als eine Herrscherin, oder besser gesagt, sie war etwas ganz anderes.

Sie herrschte nicht, sie hatte niemals Gewalt angewendet oder von ihrer Macht Gebrauch gemacht, sie befahl nichts und richtete niemanden, sie griff niemals ein und mußte sich niemals gegen einen Angreifer zur Wehr setzen, denn niemandem wäre es eingefallen, sich gegen sie zu erheben oder ihr etwas anzutun. Vor ihr galten alle gleich.

Sie war nur da, aber sie war auf eine besondere Art da: Sie war der Mittelpunkt allen Lebens in Phantásien.

Und jedes Geschöpf, ob gut oder böse, ob schön oder häßlich, lustig oder ernst, töricht oder weise, alle, alle waren nur da durch ihr Dasein. Ohne sie konnte nichts bestehen, so wenig ein menschlicher Körper bestehen könnte, der kein Herz mehr hat.

Niemand konnte ihr Geheimnis ganz begreifen, aber alle wußten, daß es so war. Und so wurde sie von allen Geschöpfen dieses Reiches gleichermaßen respektiert, und alle machten sich gleichermaßen Sorgen um ihr Leben. Denn ihr Tod wäre zugleich das Ende für sie alle gewesen, der Untergang des unermeßlichen Reiches Phantásien.

Bastians Gedanken schweiften ab.

Er sah in der Erinnerung plötzlich wieder den langen Korridor der Klinik vor sich, wo die Mama operiert worden war. Er hatte mit dem Vater viele Stunden vor dem Operationssaal gesessen und gewartet. Ärzte und Krankenschwestern waren hin und her gelaufen. Wenn der Vater danach fragte, wie es der Mama ging, hatte er nur immer ausweichende Antworten bekommen. Niemand schien so richtig zu wissen, wie es mit ihr stand. Dann war zuletzt ein glatzköpfiger Mann im weißen Kittel gekommen, der müde und traurig aussah. Er hatte ihnen gesagt, daß alle Anstrengungen umsonst gewesen wären und daß es ihm leid täte. Er hatte ihnen beiden die Hand gedrückt und»herzliches Beileid« gemurmelt.

Danach war alles anders geworden zwischen dem Vater und Bastian.

Nicht äußerlich. Bastian hatte alles, was er sich nur wünschen konnte. Er besaß ein Dreigangfahrrad, eine elektrische Eisenbahn, viele Vitamintabletten, dreiundfünfzig Bücher, einen Goldhamster, ein Aquarium mit Warmwasserfischen, einen kleinen Fotoapparat, sechs Patenttaschenmesser und alles mögliche andere. Aber er machte sich im Grunde nichts aus alledem.

Bastian erinnerte sich, daß der Vater früher gern Späße mit ihm getrieben hatte. Manchmal hatte er sogar Geschichten erzählt oder vorgelesen. Aber das war seit damals vorbei. Er konnte mit dem Vater nicht sprechen. Es war wie eine unsichtbare Mauer um ihn, durch die niemand dringen konnte. Er schimpfte nie und lobte nie. Auch als Bastian sitzengeblieben war, hatte der Vater nichts gesagt. Er hatte ihn nur auf diese abwesende und bekümmerte Art angesehen, und Bastian hatte das Gefühl gehabt, überhaupt nicht da zu sein. Dieses Gefühl hatte er meistens dem Vater gegenüber. Wenn sie zusammen abends vor dem Fernsehapparat saßen, dann merkte Bastian, daß der Vater gar nicht zuschaute, sondern mit seinen Gedanken weit, weit fort war, wo er ihn nicht erreichen konnte. Oder manchmal, wenn sie beide ein Buch hatten, sah Bastian, daß der Vater überhaupt nicht las, weil er stundenlang auf ein und dieselbe Seite blickte, ohne umzublättern.

Bastian verstand ja, daß der Vater traurig war. Er selbst hatte damals viele Nächte lang geweint, so sehr, daß er sich manchmal vor Schluchzen übergeben mußte - aber das war nach und nach vorübergegangen. Und er war doch noch da. Warum redete der Vater nie mit ihm, nicht über die Mama, nicht über wichtige Dinge, nur gerade eben so über das Nötigste?

»Wenn man nur wüßte«, sagte ein langer, magerer Feuergeist mit einem Bart aus roten Flammen,»worin ihre Krankheit überhaupt besteht. Sie hat kein Fieber, nichts ist geschwollen, keinen Ausschlag, keine Entzündung. Es ist einfach, als ob sie am Erlöschen wäre - man weiß nicht warum.«

Wenn er sprach, stiegen nach jedem Satz kleine Rauchwölkchen aus seinem Mund, die Figuren bildeten. Diesmal war es ein Fragezeichen.

Ein alter zerrupfter Rabe, der aussah wie eine große Kartoffel, in die jemand kreuz und quer ein paar schwarze Federn gesteckt hat, antwortete mit krächzender Stimme (er war Fachmann für Erkältungskrankheiten):

»Sie hustet nicht, sie hat keinen Schnupfen, es ist überhaupt keine Krankheit im medizinischen Sinne.«

Er rückte an der großen Brille auf seinem Schnabel und blickte die Umstehenden herausfordernd an.

»Eines scheint mir jedenfalls offensichtlich«, summte ein Skarabäus (ein Käfer, der auch manchmal»Pillendreher« genannt wird),»zwischen ihrer Krankheit und den furchtbaren Dingen, die uns die Boten aus ganz Phantásien melden, besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang.«

»Ach Sie«, warf ein Tintenmännchen spöttisch ein,»Sie sehen ja immer und überall geheimnisvolle Zusammenhänge!«

»Und Sie sehen niemals über den Rand Ihres Tintenfasses!« surrte der Skarabäus erbost.

»Aber meine Herrn Kollegen!« wimmerte ein hohlwangiges Gespenst dazwischen, das in einem langen weißen Kittel steckte,»wir wollen doch nicht in unsachliche, persönliche Auseinandersetzungen geraten. Und vor allem - dämpfen Sie Ihre Stimmen!«

Solche und ähnliche Unterhaltungen fanden überall in dem großen Thronsaal statt. Vielleicht mag es verwunderlich scheinen, daß so verschiedenartige Wesen sich überhaupt miteinander verständigen konnten. Aber in Phantásien waren fast alle Wesen, auch die Tiere, mindestens zweier Sprachen mächtig: Erstens der eigenen, die sie nur mit ihresgleichen redeten und die kein Außenstehender verstand, und zweitens einer allgemeinen, die man Hochphantásisch oder auch die Große Sprache nannte. Sie beherrschte jeder, wenngleich manche sie in etwas eigentümlicher Weise benützten.

Plötzlich trat Stille im Saal ein, und aller Augen wandten sich nach der großen Flügeltür, die geöffnet wurde. Herein trat Caíron, der berühmte und sagenumwobene Meister der Heilkunst.