»Verzeih mir, Herr«, keuchte er und verbeugte sich ein paarmal tief, »verzeih mir, wenn ich es wage, deine Ruhe zu stören, aber du würdest mit Recht unzufrieden mit mir sein, wenn ich es nicht getan hätte. Die Kindliche Kaiserin ist nicht im Elfenbeinturm, schon seit undenklicher Zeit nicht mehr, und niemand weiß, wo sie weilt.«
Bastian fühlte sich plötzlich leer und kalt im Inneren. »Du mußt dich irren. Das kann nicht sein.«
»Die anderen Boten werden es dir bestätigen, wenn sie nachgekommen sind, Herr.«
Bastian schwieg eine Weile, dann sagte er tonlos:
»Danke, es ist gut.«
Er drehte sich um und ging in sein Zelt.
Er setzte sich auf sein Lager und stützte den Kopf in beide Hände. Es war ganz unmöglich, daß Mondenkind nicht erfahren haben sollte, seit wie langer Zeit er unterwegs zu ihr war. Wollte sie ihn nicht wiedersehen? Oder war ihr etwas zugestoßen? Nein, es war ganz undenkbar, daß ihr in ihrem eigenen Reich etwas zustoßen konnte, ihr, der Kindlichen Kaiserin.
Aber sie war nicht da, und das bedeutete, daß er ihr AURYN nicht zurückgeben mußte. Auf der anderen Seite fühlte er bitterliche Enttäuschung darüber, daß er sie nicht wiedersehen sollte. Was auch immer sie für einen Grund zu diesem Verhalten haben mochte, er fand es unbegreiflich, nein, es war kränkend!
Dann fiel ihm Atréjus und Fuchurs oft wiederholte Bemerkung ein, daß jeder der Kindlichen Kaiserin nur ein einziges Mal begegnet.
Die Trauer darüber machte, daß er plötzlich Sehnsucht nach Atréju und Fuchur verspürte. Er wollte sich mit jemand aussprechen, wollte mit einem Freund reden.
Ihm kam die Idee, den Gürtel Gémmal anzulegen und unsichtbar zu ihnen zu gehen. So konnte er bei ihnen sein und ihre tröstliche Gegenwart genießen, ohne sich etwas zu vergeben.
Rasch öffnete er das verzierte Kästchen, hohe den Gürtel hervor und legte ihn sich um die Hüfte. Wieder überkam ihn das unangenehme Gefühl, wie beim ersten Mal, als er sich selbst nicht mehr sah. Er wartete eine Weile, bis er sich daran gewöhnt hatte, dann ging er hinaus und begann in der Zeltstadt umherzuwandern auf der Suche nach Atréju und Fuchur.
Überall war aufgeregtes Wispern und Raunen zu hören, schattenhafte Gestalten huschten zwischen den Zelten hin und her, da und dort hockten mehrere zusammen und berieten leise miteinander. Inzwischen waren auch die anderen Boten zurückgekehrt, und die Nachricht, daß Mondenkind nicht im Elfenbeinturm war, hatte sich wie ein Lauffeuer im Lager der Weggenossen verbreitet. Bastian ging zwischen den Zelten herum, aber er fand zunächst die beiden, die er suchte, nicht.
Atréju und Fuchur hatten sich ganz am Rande des Lagers unter einem blühenden Rosmarinbaum niedergelassen. Atréju saß mit untergeschlagenen Beinen, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte mit starrem Gesicht in die Richtung des Elfenbeinturms. Der Glücksdrache lag neben ihm, den mächtigen Kopf zu seinen Füßen auf der Erde.
»Es war meine letzte Hoffnung, daß sie mit ihm eine Ausnahme machen würde, um das Zeichen von ihm zurückzunehmen«, sagte Atréju, »aber nun ist alle Hoffnung verloren.«
»Sie wird wissen, was sie tut«, antwortete Fuchur.
In diesem Augenblick hatte Bastian die beiden gefunden und trat unsichtbar zu ihnen.
»Weiß sie es wirklich?« murmelte Atréju, »Er darf AURYN nicht länger behalten.«
»Was willst du tun?« fragte Fuchur. »Er wird es freiwillig nicht hergeben.«
»Ich muß es ihm nehmen«, antwortete Atréju.
Bastian fühlte bei diesen Worten den Boden unter seinen Füßen schwinden.
»Wie willst du das tun?« hörte er Fuchur sagen. »Ja, wenn du es erst einmal hättest, könnte er dich nicht mehr zwingen, es ihm zurückzugeben.«
»Oh, das weiß ich nicht«, meinte Atréju, »seine Stärke und sein Zauberschwert hätte er ja noch immer.«
»Aber das Zeichen würde dich schützen«, wandte Fuchur ein, »sogar vor ihm.«
»Nein«, sagte Atréju, »ich glaube nicht. Nicht vor ihm. Nicht so.«
»Und dabei«, fuhr Fuchur mit einem leisen, grimmigen Lachen fort, »hat er es dir selbst angeboten, an eurem ersten Abend in Amargánth. Und du hast es abgelehnt.«
Atréju nickte.
»Damals wußte ich noch nicht, wie es kommen würde.«
»Was bleibt dir dann noch übrig?« fragte Fuchur, »was kannst du tun, um ihm das Zeichen wegzunehmen?«
»Ich muß es ihm stehlen«, antwortete Atréju.
Fuchurs Kopf schnellte in die Höhe. Mit rubinrot-glühenden Augenbällen starrte er Atréju an, der seinen Blick zu Boden senkte und leise wiederholte:
»Ich muß es ihm stehlen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Nach einer bangen Stille fragte Fuchur:
»Und wann?«
»Noch diese Nacht«, antwortete Atréju, »denn morgen kann es schon zu spät sein.«
Bastian wollte nichts mehr hören. Er ging langsam fort. Er fühlte nichts mehr als eine kalte, grenzenlose Leere. Nun war ihm alles gleichgültig - wie Xayíde es gesagt hatte.
Er ging in sein Zelt zurück und nahm den Gürtel Gémmal ab. Dann schickte er Illuán, die drei Herren Hýsbald, Hýkrion und Hýdorn zu rufen. Während er wartend auf und ab ging, fiel ihm ein, daß Xayíde ihm alles vorausgesagt hatte. Er hatte es nicht glauben wollen, aber nun mußte er es. Xayíde meinte es ehrlich mit ihm, das sah er jetzt ein. Sie allein war ihm wahrhaft ergeben. Aber noch war nicht gesagt, daß Atréju seinen Plan auch tatsächlich ausführen würde. Vielleicht war es nur ein Einfall gewesen, dessen er sich schon schämte. In diesem Fall wollte Bastian kein Wort über die Sache verlieren - obwohl ihm an Freundschaft von nun an nichts mehr lag. Das war für immer vorbei.
Als die drei Herren kamen, erklärte er ihnen, er habe Gründe für die Annahme, daß noch diese Nacht ein Dieb in sein Zelt kommen würde. Er bäte die drei Herren deshalb, im Inneren des Zeltes Wache zu halten und den Dieb, wer es auch sein möge, sofort gefangenzunehmen. Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion waren einverstanden und machten es sich bequem. Bastian ging fort.
Er begab sich zu Xayídes Korallensänfte. Sie lag in tiefem Schlaf, nur die fünf Riesen in ihren schwarzen Insektenpanzern standen aufrecht und reglos um sie herum. In der Dunkelheit sahen sie aus wie fünf Felsbrocken.
»Ich wünsche, daß ihr mir gehorcht«, sagte Bastian leise.
Sofort wandten alle fünf ihm ihre schwarzen Eisengesichter zu.
»Befiehl uns, Herr unserer Herrin«, antwortete einer mit blechern er Stimme.
»Glaubt ihr, ihr werdet mit dem Glücksdrachen Fuchur fertig?« wollte Bastian wissen.
»Das kommt auf den Willen an, der uns lenkt«, erwiderte die Blechstimme.
»Es ist mein Wille«, sagte Bastian.
»Dann werden wir mit allem fertig«, war die Antwort.
»Gut, dann marschiert jetzt in seine Nähe!« - er zeigte mit der Hand die Richtung. »Sobald Atréju ihn verläßt, nehmt ihn gefangen! Aber bleibt mit ihm dort. Ich lasse euch rufen, wenn ihr ihn bringen sollt.«
»Das tun wir gern, Herr unserer Herrin«, gab die blecherne Stimme zur Antwort.
Die fünf Schwarzen setzten sich lautlos und im Gleichschritt in Bewegung. Xayíde lächelte im Schlaf.