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Bastian ging zu seinem Zelt zurück, aber als er es vor sich sah, zögerte er. Falls Atréju tatsächlich den Diebstahl versuchen würde, so wollte er nicht dabei sein, wenn sie ihn gefangennahmen.

Das erste Morgengrauen stieg bereits am Himmel empor, und Bastian setzte sich, nicht weit von seinem Zelt, unter einen Baum und wartete, in seinen silbernen Mantel gewickelt. Die Zeit verstrich unendlich langsam, ein fahler Morgen dämmerte herauf, es wurde heller, und Bastian schöpfte bereits Hoffnung, daß Atréju sein Vorhaben aufgegeben habe, als plötzlich Lärm und Stimmengewirr aus dem Inneren des Prachtzeltes drang. Es dauerte nur kurz, dann wurde Atréju mit auf den Rücken gefesselten Armen von Hýkrion aus dem Zelt geführt. Die beiden anderen Herren folgten.

Bastian erhob sich müde und lehnte sich gegen den Baum.

»Also doch!« murmelte er vor sich hin.

Dann ging er zu seinem Zelt. Er mochte Atréju nicht anschauen, und auch dieser hielt den Kopf gesenkt.

»Illuán!« sagte Bastian zu dem blauen Dschinn neben dem Zelteingang, »wecke das ganze Lager auf. Alle sollen sich hier versammeln. Und die schwarzen Panzerriesen sollen Fuchur bringen.«

Der Dschinn stieß einen scharfen Adlerschrei aus und eilte fort. Überall, wo er vorüberkam, begann es sich zu regen in den großen und kleinen Zelten und den anderen Lagerstellen.

»Er hat sich überhaupt nicht gewehrt«, knurrte Hýkrion und wies mit einer Kopfbewegung auf Atréju, der reglos und gesenkten Hauptes dastand. Bastian wandte sich ab und setzte sich auf einen Stein.

Als die fünf schwarzen Riesen Fuchur brachten, hatte sich bereits eine große Menge rund um das Prachtzelt versammelt. Beim Näherkommen des stampfenden, metallischen Gleichschritts wichen die Zuschauer auseinander und gaben eine Straße frei. Fuchur war weder gefesselt, noch berührten die gepanzerten Riesen ihn, sie gingen nur links und rechts von ihm mit gezogenen Schwertern.

»Er hat sich überhaupt nicht gewehrt, Herr unserer Herrin«, sagte eine der blechernen Stimmen zu Bastian, als der Zug vor ihm anhielt.

Fuchur legte sich vor Atréju auf den Boden und schloß die Augen.

Eine lange Stille trat ein. Die letzten Nachzügler aus dem Heerlager eilten herzu und streckten die Hälse, um zu sehen, was es gab. Die einzige Person, die nicht zugegen war, war Xayíde. Das Flüstern und Raunen erstarb nach und nach. Alle Blicke wanderten zwischen Atréju und Bastian hin und her. Im grauen Zwielicht wirkten ihre reglosen Gestalten wie ein für immer erstarrtes Bild ohne Farben.

Endlich erhob sich Bastian.

»Atréju«, sagte er, »du wolltest mir das Zeichen der Kindlichen Kaiserin stehlen, um es dir selbst anzueignen. Und du, Fuchur, hast es gewußt und mit ihm geplant. Ihr beide habt damit nicht nur die Freundschaft besudelt, die einmal zwischen uns bestand, ihr habt euch auch des schlimmsten Verbrechens gegen den Willen Mondenkinds, schuldig gemacht, die mir das Kleinod gegeben hat. Bekennt ihr euch schuldig?«

Atréju warf Bastian einen langen Blick zu, dann nickte er.

Bastian versagte die Stimme, und er mußte zweimal ansetzen, ehe er weitersprechen konnte.

»Ich denke daran, Atréju, daß du es warst, der mich zur Kindlichen Kaiserin gebracht hat. Und ich denke an Fuchurs Gesang in Amargánth. Darum will ich euch euer Leben schenken, das Leben eines Diebes und eines Diebsgesellen. Macht damit, was ihr wollt. Aber geht fort von mir, so weit ihr könnt, und wagt es nie wieder, mir vor die Augen zu treten. Ich verbanne euch für immer. Ich habe euch nie gekannt!«

Er machte Hýkrion mit dem Kopf ein Zeichen, Atréjus Fesseln zu lösen, dann wandte er sich ab und setzte sich wieder.

Atréju stand lange Zeit, ohne sich zu bewegen, dann warf er einen Blick auf Bastian. Er schien etwas sagen zu wollen, aber dann überlegte er es sich anders. Er beugte sich zu Fuchur nieder und flüsterte ihm etwas zu. Der Glücksdrache öffnete die Augen und richtete sich auf. Atréju sprang auf seinen Rücken, und Fuchur erhob sich in die Luft. Er flog geradewegs in den immer heller werdenden Morgenhimmel hinein, und obgleich seine Bewegungen schwer und mühsam waren, war er doch in wenigen Augenblicken in der Ferne verschwunden.

Bastian stand auf und ging in sein Zelt. Er warf sich auf sein Lager.

»Nun hast du wahrhafte Größe erreicht«, sagte leise eine sanfte, verschleierte Stimme, »nun liegt dir an nichts mehr, und nichts kann dich mehr erreichen.«

Bastian setzte sich auf. Es war Xayíde, die gesprochen hatte. Sie hockte in der dunkelsten Ecke des Zeltes.

»Du?« fragte Bastian, »wie bist du hereingekommen?«

Xayíde lächelte.

»Für mich, Herr und Meister, gibt es keine Wachen, die mich zurückhalten können. Das könnte nur dein Befehl. Schickst du mich fort?«

Bastian legte sich zurück und schloß die Augen wieder. Nach einer Weile murmelte er:

»Es ist mir gleich. Bleib oder geh!«

Sie beobachtete ihn lange Zeit unter halbgesenkten Lidern. Dann erkundigte sie sich:

»Woran denkst du, Herr und Meister?«

Bastian drehte sich von ihr fort und antwortete nicht.

Es war Xayíde klar, daß sie ihn jetzt auf keinen Fall sich selbst überlassen durfte. Er war nahe daran, ihr zu entgleiten. Sie mußte ihn trösten und aufmuntern - auf ihre Art. Sie mußte ihn dazu bringen, auf dem Weg weiterzugehen, den sie für ihn vorgesehen hatte - und für sich selbst. Und diesmal würde die Sache nicht mit einem Zaubergeschenk oder einem einfachen Trick zu machen sein. Sie mußte zu stärkeren Mitteln greifen. Zum stärksten, das ihr zur Verfügung stand, zu Bastians heimlichsten Wünschen. Sie setzte sich neben ihn und flüsterte ihm ins Ohr:

»Wann, mein Herr und Meister, willst du zum Elfenbeinturm ziehen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Bastian in seine Kissen hinein, »was soll ich dort noch, wenn Mondenkind nicht da ist? Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich jetzt noch soll.«

»Du könntest hinziehen, um die Kindliche Kaiserin dort zu erwarten.«

Bastian wandte sich Xayíde zu.

»Glaubst du, sie wird zurückkommen?«

Er mußte seine Frage noch einmal dringender wiederholen, ehe Xayíde zögernd antwortete:

»Ich glaube es nicht. Ich glaube, daß sie für immer Phantásien verlassen hat und daß du ihr Nachfolger bist, Herr und Meister.«

Bastian richtete sich langsam auf. Er blickte in Xayídes zweifarbige Augen, und es dauerte eine Weile, bis er ganz begriffen hatte, was sie ihm da sagte.

»Ich?« stieß er hervor. Auf seinen Wangen zeigten sich rote Flecken.

»Erschreckt dich dieser Gedanke so sehr?« flüsterte Xayíde. »Sie hat dir das Zeichen ihrer Vollmacht gegeben. Sie hat dir ihr Reich überlassen. Du wirst nun der Kindliche Kaiser sein, mein Herr und Meister. Und es ist dein gutes Recht. Du hast Phantásien nicht nur gerettet, indem du kamst, du hast es doch erst geschaffen! Wir alle - auch ich selbst - sind nur deine Geschöpfe! Du bist der Große Wissende, warum erschreckt es dich nun, auch die Allmacht zu ergreifen, die dir doch nach allem gebührt?«

Und während Bastians Augen mehr und mehr in einem kalten Fieber zu glänzen begannen, erzählte ihm Xayíde von einem neuen Phantásien, von einer Welt, die bis in alle Einzelheiten nach Bastians Belieben zu gestalten war, in der er nach Willkür schaffen und vernichten konnte, in der es keine Schranken und Bedingungen mehr gab, wo jedes Geschöpf, ob gut oder böse, schön oder häßlich, töricht oder weise, einzig seinem Willen entsprungen war und er erhaben und rätselhaft über allem thronte und die Geschicke lenkte in ewigem Spiel.