»Erst dann«, schloß sie zuletzt, »bist du wahrhaftig frei, frei von allem, was dich beengt, und frei zu tun, was du willst. Und wolltest du nicht deinen Wahren Willen finden? Das ist er!«
Noch am gleichen Morgen wurde das Zeltlager abgebrochen, und der vieltausendköpfige Zug, angeführt von Bastian und Xayíde in der Korallensänfte, machte sich auf den Weg zum Elfenbeinturm. Eine schier endlose Kolonne zog über die verschlungenen Wege des Labyrinths. Und als deren Spitze gegen Abend den Elfenbeinturm erreichte, hatten die letzten Nachzügler gerade erst die äußere Grenze des Blumengartens überschritten.
Der Empfang, der Bastian bereitet wurde, war so festlich, wie er es sich nur wünschen konnte. Alles, was zum Hofstaat der Kindlichen Kaiserin gehörte, war auf den Beinen. Auf allen Zinnen und Dächern standen Elben-Wächter mit blitzenden Trompeten und schmetterten, was ihre Lungen hergaben. Die Gaukler zeigten ihre Kunststücke, die Sterndeuter verkündeten Bastians Glück und Größe, die Bäcker buken Torten so hoch wie Berge, die Minister und Würdenträger aber gingen neben der Korallensänfte her und geleiteten sie durch das Gewühl der Menge die Hauptstraße hinauf, die in einer immer enger werdenden Spirale um den kegelförmigen Elfenbeinturm lief, bis dorthin, wo das große Tor ins Innere des eigentlichen Palastteils führte. Bastian stieg, gefolgt von Xayíde und allen Würdenträgern, die schneeweißen Stufen der breiten Treppe empor, ging weiter durch alle Säle und Korridore, durch das zweite Tor, immer höher hinauf, durch den Garten, in dem Tiere, Blumen und Bäume aus Elfenbein waren, über die geschwungenen Brücken und durch das letzte Tor. Er wollte in jenen Pavillon, der die Spitze des riesigen Turmes bildete und der die Gestalt einer Magnolienblüte hatte. Doch zeigte es sich, daß die Blüte geschlossen war und daß das letzte Stück Wegs, das zu ihr emporführte, so glatt und steil war, daß niemand hinaufkommen konnte.
Bastian erinnerte sich, daß auch der schwerverwundete Atréju damals nicht hatte hinaufgelangen können, jedenfalls nicht aus eigener Kraft - denn niemand, der je dort hinaufgekommen ist, weiß, wie es ihm gelang. Es muß einem geschenkt werden.
Aber Bastian war nicht Atréju. Wenn einer von nun an dieses letzte Stück Wegs als Gnade zu verschenken hatte, so war er es. Und er war nicht gesonnen, sich jetzt noch auf seinem Weg aufhalten zu lassen.
»Ruft Handwerker herbei!« befahl er, »sie sollen mir Stufen in die glatte Oberfläche schlagen oder eine Leiter bauen oder sich irgend etwas anderes ausdenken. Denn ich wünsche, dort oben meinen Wohnsitz zu nehmen.«
»Herr«, wagte einer der ältesten Ratgeber einzuwenden, »dort oben wohnt unsere Goldäugige Gebieterin der Wünsche, wenn sie bei uns ist.«
»Tut, was ich euch befehle!« herrschte Bastian ihn an.
Die Würdenträger wurden bleich und wichen vor ihm zurück. Aber sie gehorchten. Handwerker wurden herbeigeholt, die mit schweren Hämmern und Meißeln ans Werk gingen. Aber so sehr sie sich auch abplagten, es gelang ihnen nicht, auch nur das kleinste Stück aus dem Berggipfel herauszuschlagen. Die Meißel sprangen ihnen aus den Händen, und nicht einmal ein Kratzer blieb in der glatten Oberfläche zurück.
»Erfindet irgend etwas anderes«, sagte Bastian und wandte sich unwillig ab, »denn ich will dort hinauf. Aber denkt daran, daß meine Geduld bald zu Ende sein könnte.«
Dann ging er zurück und ergriff vorerst einmal mit seinem Hofstaat, zu dem vor allem Xayíde, die drei Herren Hýsbald, Hýkrion und Hýdorn sowie Illuán, der blaue Dschinn, gehörten, von den übrigen Räumen des Palastbezirkes Besitz.
Noch in der gleichen Nacht berief er alle Würdenträger, Minister und Ratgeber, die bisher Mondenkind gedient hatten, zu einer Versammlung ein, die in jenem großen Rundsaal stattfand, wo einst der Ärztekongreß getagt hatte. Er verkündete ihnen, daß die Goldäugige Gebieterin ihm, Bastian Balthasar Bux, alle Macht über das unendliche phantásische Reich hinterlassen habe und daß er von nun an ihre Stelle einnehme. Er forderte sie auf, vollständige Unterwerfung unter seinen Willen zu geloben.
»Auch und gerade dann«, fügte er hinzu, »wenn meine Entscheidungen für euch bisweilen unbegreiflich sein sollten. Denn ich bin nicht euresgleichen.«
Dann setzte er fest, daß er sich genau siebenundsiebzig Tage später selbst zum Kindlichen Kaiser von Phantásien krönen wolle. Es solle eine Feierlichkeit von solcher Pracht geben, wie sie selbst in Phantásien noch nie gewesen sei. Man solle auf der Stelle Boten in alle Lande aussenden, denn er wünsche, daß jedes Volk des phantasischen Reiches einen Vertreter zur Krönungsfestlichkeit entsende.
Damit zog Bastian sich zurück und ließ die ratlosen Ratgeber und Würdenträger allein.
Sie wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Alles, was sie gehört hatten, klang in ihren Ohren so ungeheuerlich, daß sie zunächst lange Zeit schweigend dastanden und die Köpfe einzogen. Dann begannen sie leise, sich zu unterreden. Und nach stundenlanger Beratung kamen sie überein, daß sie Bastians Anweisungen Folge leisten mußten, denn er trug ja das Zeichen der Kindlichen Kaiserin, und das verpflichtete sie zum Gehorsam - ob sie nun glaubten, daß Mondenkind tatsächlich alle Macht an Bastian abgetreten hatte oder ob diese ganze Angelegenheit wiederum nur einer ihrer unbegreiflichen Ratschlüsse war. Die Boten wurden also ausgeschickt, und auch sonst wurde alles befolgt, was Bastian angeordnet hatte.
Er selbst kümmerte sich allerdings nicht mehr darum. Alle Einzelheiten für die Vorbereitung der Krönungsfeierlichkeit überließ er Xayíde. Und sie verstand es, den Hofstaat im Elfenbeinturm zu beschäftigen - so sehr, daß kaum noch irgend jemand dazukam, nachzudenken.
Bastian selbst saß während der nächsten Tage und Wochen meist reglos in dem Gemach, das er sich erwählt hatte. Er starrte vor sich hin und tat nichts. Er hätte sich gern irgend etwas gewünscht oder eine Geschichte erfunden, die ihn unterhielt, aber es fiel ihm nichts mehr ein. Er fühlte sich leer und hohl.
So verfiel er schließlich auf die Idee, er könne Mondenkind herbeiwünschen. Und wenn er nun tatsächlich allmächtig war, wenn alle seine Wünsche Wirklichkeit wurden, so mußte auch sie ihm gehorchen. Halbe Nächte lang saß er und flüsterte vor sich hin: »Mondenkind, komm! Du mußt kommen. Ich befehle dir zu kommen.« Und er dachte an ihren Blick, der wie ein leuchtender Schatz in seinem Herzen gelegen hatte. Aber sie kam nicht. Und je öfter er es versuchte, sie herbeizuzwingen, desto mehr erlosch die Erinnerung an jenes Leuchten in seinem Herzen, bis es ganz dunkel in ihm war.
Er redete sich ein, daß er alles wiederfinden würde, wenn er erst in dem Magnolienblüten-Pavillon säße. Immer wieder lief er zu den Handwerkern und trieb sie an, teils mit Drohungen, teils mit Versprechungen, aber alles, was sie taten, erwies sich als unnütz. Die Leitern zerbrachen, die Stahlnägel verbogen sich, die Meißel zersprangen.
Die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn, mit denen Bastian bisweilen gern geplaudert oder irgendwelche Spiele gespielt hätte, waren nur noch selten zu etwas zu gebrauchen. Sie hatten in den tiefsten Stockwerken des Elfenbeinturms einen Weinkeller entdeckt. Dort saßen sie nun bei Tag und Nacht, tranken, würfelten, grölten dumme Lieder oder stritten sich, wobei sie nicht selten sogar gegeneinander die Schwerter zogen. Manchmal durchstreiften sie auch torkelnd die Hauptstraße und belästigten die Feen, Elfen, Wildweibchen und andere weibliche Wesen im Turm.