Einige Stunden später trafen die ersten Schlachtberichte ein. Auf seiten Atréjus kämpfte fast das ganze Volk der Grünhäute, aber auch an die zweihundert Kentauren, achtundfünfzig Felsenbeißer, fünf Glücksdrachen, die von Fuchur angeführt wurden, griffen ständig aus der Luft ins Kampf geschehen ein, darüber hinaus eine Schar von weißen Riesenadlern, die aus dem Schicksalsgebirge herbeigeflogen waren, und sehr viele andere Wesen. Sogar Einhörner seien gesichtet worden.
Zwar waren sie zahlenmäßig dem Heer, das die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn anführten, weitaus unterlegen, doch kämpften sie mit solcher Entschlossenheit, daß sie das Heer, das für Bastian stritt, immer weiter zum Elfenbeinturm zurücktrieben.
Bastian wollte selbst hinaus, um die Führung seines Heers in die Hand zu nehmen, aber Xayíde riet ihm davon ab.
»Bedenke, Herr und Meister«, sagte sie, »daß es sich für deinen neuen Rang als Kaiser Phantásiens nicht schickt, einzugreifen. Überlasse das getrost deinen Getreuen.«
Die Schlacht dauerte den ganzen restlichen Tag. Jeder Fußbreit des Gartenlabyrinths wurde von Bastians Heer verbissen verteidigt und verwandelte sich in ein zerstampftes blutiges Schlachtfeld. Als es schon anfing dunkel zu werden, hatten die ersten Aufrührer den Fuß des Elfenbeinturmes erreicht.
Und nun schickte Xayíde ihre schwarzen Panzerriesen mit und ohne Rösser los, die furchtbar unter Atréjus Getreuen zu wüten begannen.
Ein genauer Bericht dieser Schlacht um den Elfenbeinturm ist unmöglich, und darum muß hier darauf verzichtet werden. Noch bis heute gibt es in Phantásien unzählige Lieder und Berichte, die von diesem Tag und dieser Nacht handeln, denn jeder, der daran teilgenommen hat, hat dabei etwas anderes erlebt. Das alles sind Geschichten, die vielleicht ein andermal erzählt werden sollen.
Einige Stimmen berichten, daß es auch auf Atréjus Seite einen oder sogar mehrere weiße Magier gegeben habe, die Xayídes Zauberkräften gewachsen waren. Mit Sicherheit weiß man darüber nichts. Vielleicht liegt darin die Erklärung, wie es Atréju und seinen Leuten gelingen konnte, trotz der schwarzen Panzerriesen den Elfenbeinturm zu erobern. Wahrscheinlicher ist jedoch ein anderer Grund: Atréju kämpfte nicht für sich, sondern für seinen Freund, den er besiegen wollte, um ihn zu retten.
Die Nacht war längst hereingebrochen, eine sternenlose Nacht voller Rauch und Flammen. Zu Boden gefallene Fackeln, umgestürzte Räucherbecken oder zertrümmerte Lampen hatten an vielen Stellen den Turm in Brand gesteckt. Bastian rannte im flackernden Feuerschein zwischen den Kämpf enden umher, die gespenstische Schatten warfen. Waffenlärm und Kampfgebrüll war um ihn.
»Atréju!« schrie er mit heiserer Stimme, »Atréju, zeige dich mir! Stell dich mir zum Kampf! Wo bist du?«
Aber das Schwert Sikánda steckte in seiner Scheide und regte sich nicht.
Bastian jagte durch alle Räume des Palastbezirks, dann lief er auf die große Mauer hinaus, die hier so breit war wie eine Straße, und als er gerade über jenes große, äußere Tor laufen wollte, unter dem - nun in tausend Scherben zersplittert - der Spiegelthron stand, sah er, daß Atréju ihm von der anderen Seite her entgegenkam. Atréju hatte ein Schwert in der Hand.
Dann standen sie voreinander, Auge in Auge. Sikánda regte sich nicht.
Atréju setzte Bastian die Spitze seines Schwertes auf die Brust.
»Gib mir das Zeichen«, sagte er, »um deiner selbst willen.«
»Verräter!« schrie Bastian zurück. »Du bist mein Geschöpf! Alles habe ich ins Dasein gerufen! Auch dich! Willst du dich gegen mich wenden? Knie nieder und bitte mich um Verzeihung!«
»Du bist wahnsinnig«, antwortete Atréju, »du hast nichts geschaffen. Alles verdankst du der Kindlichen Kaiserin! Gib mir AURYN!«
»Hol es dir!« sagte Bastian, »wenn du kannst.«
Atréju zögerte.
« Bastian«, sagte er, »warum zwingst du mich, dich zu besiegen, um dich zu retten?«
Bastian riß an seinem Schwertgriff, und mit seiner riesigen Kraft gelang es ihm tatsächlich, Sikánda aus seiner Scheide zu ziehen, ohne daß es ihm von selbst in die Hand sprang. Doch im gleichen Augenblick, als das geschah, war ein Laut zu hören, der so erschreckend klang, daß auch die Kämpfer unten auf der Straße vor dem Tor für einen Moment wie erstarrt stehenblieben und zu den beiden emporblickten. Und Bastian erkannte den Laut wieder. Es war das schreckliche Knirschen, das er gehört hatte, als Graógramán zu Stein wurde. Und das Leuchten Sikándas erlosch. Ihm schoß durch den Kopf, was der Löwe ihm angekündigt hatte, falls er diese Waffe je aus eigenem Willen ziehen würde. Aber nun konnte und wollte er es nicht mehr rückgängig machen.
Er schlug auf Atréju ein, der sich mit seinem Schwert zu decken versuchte. Doch Sikánda zerschnitt Atréjus Waffe und traf seine Brust. Eine tiefe Wunde klaffte auf, und Blut quoll hervor. Atréju taumelte rückwärts und stürzte von der Zinne des großen Tores hinunter. Da fuhr eine weiße Stichflamme aus den Rauchschwaden durch die Nacht daher, fing Atréju im Fallen auf und riß ihn mit sich fort. Es war Fuchur, der weiße Glücksdrache gewesen.
Bastian wischte sich mit seinem Mantel den Schweiß von der Stirn. Und während er das tat, wurde er gewahr, daß der Mantel schwarz geworden war, schwarz wie die Nacht. Noch immer das Schwert Sikánda in der Faust, stieg er von der Palastmauer herunter und trat auf den freien Platz hinaus.
Mit dem Sieg über Atréju war das Schlachtenglück von einem Augenblick zum anderen umgeschlagen. Das Heer der Rebellen, dem eben noch der Sieg sicher zu sein schien, begann zu fliehen. Bastian war wie in einem schrecklichen Traum, aus dem er nicht erwachen konnte. Sein Sieg schmeckte ihm bitter wie Galle, und doch fühlte er zugleich einen wilden Triumph.
In seinen schwarzen Mantel gewickelt, das blutige Schwert in der Faust ging er langsam die Hauptstraße des Elfenbeinturms hinunter, der nun schon in der Feuersbrunst loderte wie eine Riesenfackel. Bastian aber ging weiter durch das Brausen und Heulen der Flammen, die er kaum fühlte, bis er den Fuß des Turmes erreicht hatte. Dort traf er auf die Reste seines Heeres, die inmitten des verwüsteten Gartenlabyrinths - jetzt ein endloses Schlachtfeld voller erschlagener Phantasier - auf ihn warteten. Auch Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn waren da, die beiden letzteren schwer verwundet. Illuán, der blaue Dschinn, war gefallen. Xayíde stand bei seiner Leiche. Sie hielt den Gürtel Gémmal in der Hand.
»Dies, Herr und Meister«, sagte sie, »hat er für dich gerettet.«
Bastian nahm den Gürtel und preßte ihn in seiner Faust zusammen, dann steckte er ihn in seine Tasche.
Er blickte sich langsam im Kreise seiner Kampf- und Weggenossen um. Nur noch wenige hundert waren übriggeblieben. Sie sahen erschöpft und verwüstet aus. Das flackernde Licht des Feuerscheins ließ sie wie eine Schar von Gespenstern erscheinen.
Alle hatten ihre Gesichter dem.Elfenbeinturm zugewendet, der wie ein Scheiterhaufen mehr und mehr in sich zusammenstürzte. Der Magnolien-Pavillon auf seiner Spitze loderte auf, seine Blütenblätter öffneten sich weit, und man konnte sehen, daß er leer war. Dann verschlangen auch ihn die Flammen.
Bastian zeigte mit seinem Schwert auf den Haufen aus Glut und Trümmern und sagte mit rauher Stimme:
»Das ist Atréjus Werk. Und dafür will ich ihn nun verfolgen bis ans Ende der Welt!«