Er schwang sich auf eines der Riesenpferde aus schwarzem Metall und schrie: »Folgt mir!«
Das Roß bäumte sich auf, aber er zwang es mit seinem Willen und jagte in gestrecktem Galopp in die Nacht hinein.
23.
Die Alte Kaiser Stadt
Während Bastian schon meilenfern durch die pechschwarze Nacht dahinjagte, machten die zurückgebliebenen Kampfgenossen sich erst an den Aufbruch. Viele von ihnen waren verwundet, alle waren zu Tode erschöpft, und keiner hatte auch nur annähernd Bastians unermeßliche Kraft und Ausdauer. Selbst die schwarzen Panzerriesen auf ihren metallenen Pferden setzten sich nur schwerfällig in Bewegung, und jene anderen, die zu Fuß gingen, konnten ihren üblichen Gleichschritt nicht finden. Auch Xayídes Wille - durch den sie ja gelenkt wurden - schien demnach an den Grenzen seiner Kraft zu sein. Ihre Korallensänfte war beim Brand des Elfenbeinturmes den Flammen zum Opfer gefallen. So war aus allerlei Wagenbrettern, zerbrochenen Waffen und verkohlten Resten des Turms eine neue Sänfte gebaut worden, die freilich mehr einer Elendshütte glich. Das übrige Heer schleppte sich humpelnd und schlurfend hinterdrein. Auch Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn, die ihre Pferde verloren hatten, mußten sich gegenseitig stützen. Niemand sprach ein Wort, aber alle wußten, daß es ihnen unmöglich sein würde, Bastian jemals einzuholen.
Der donnerte weiter durch die Finsternis dahin, der schwarze Mantel flatterte wild um seine Schultern, die metallenen Glieder des Riesenpferdes knirschten und kreischten bei jeder Bewegung, während die gewaltigen Hufe auf das Erdreich hämmerten.
»Ho!« schrie Bastian, »hoi! hoi! hoi!«
Es ging ihm nicht schnell genug.
Er wollte Atréju und Fuchur einholen, um jeden Preis, und wenn er dafür dieses metallene Ungeheuer von einem Pferd zuschanden reiten mußte!
Er wollte Rache! Zu dieser Stunde wäre er längst am Ziel all seiner Wünsche gewesen, aber Atréju hatte es vereitelt. Bastian war nicht Kaiser von Phantásien geworden. Das sollte Atréju bitterlich büßen!
Bastian trieb sein metallenes Reittier noch rücksichtsloser an. Dessen Gelenke knarrten und quietschten immer lauter, aber es gehorchte dem Willen seines Reiters und beschleunigte den rasenden Galopp.
Viele Stunden währte diese wilde Jagd, ohne daß die Nacht sich lichtete. Und immerfort sah Bastian in Gedanken den brennenden Elfenbeinturm vor sich und durchlebte immer von neuem den Augenblick, da Atréju ihm das Schwert auf die Brust gesetzt hatte - bis ihm zum ersten Mal die Frage aufstieg: Warum hatte Atréju gezögert? Warum hatte er es nach allem nicht über sich gebracht, ihn zu verwunden, um ihm AURYN mit Gewalt zu nehmen? Und nun mußte Bastian plötzlich an die Wunde denken, die er Atréju geschlagen hatte, und an dessen letzten Blick, als er zurücktaumelte und abstürzte.
Bastian steckte Sikánda, das er bis jetzt noch immer in der Faust geschwungen hatte, in seine rostige Scheide zurück.
Der Morgen graute, und nach und nach konnte er sehen, wo er sich befand. Es war eine Heide, über die das Metallpferd jetzt hinfegte. Die dunklen Umrisse von Wacholdergruppen sahen aus wie reglose Versammlungen kapuzentragender Riesenmönche oder Zauberer mit spitzen Hüten. Felsblöcke lagen dazwischen verstreut.
Und dann geschah es, daß das Metallpferd mitten im gestreckten Galopp ganz plötzlich einfach in seine Teile zerfiel.
Bastian blieb von der Wucht des Sturzes betäubt liegen. Als er sich endlich wieder aufraffte und die geprellten Glieder rieb, fand er sich in einem niedrigen Wacholdergebüsch. Er kroch heraus. Draußen lagen über eine weite Fläche verteilt die schalenartigen Trümmer des Rosses, als sei ein Reiterdenkmal explodiert.
Bastian stand auf, warf sich seinen schwarzen Mantel über die Schulter und ging ohne Ziel dem heller werdenden Morgenhimmel entgegen.
In dem Wacholdergebüsch aber blieb ein glitzerndes Ding zurück, das er dort verloren hatte: der Gürtel Gémmal. Bastian merkte nichts von diesem Verlust und dachte auch später nie mehr daran. Illuán hatte den Gürtel ganz umsonst aus den Flammen gerettet.
Ein paar Tage später wurde Gémmal von einer Elster gefunden, die nicht ahnte, was es mit diesem Glitzerding auf sich hatte. Sie trug es in ihr Nest, doch damit begann eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.
Gegen Mittag kam Bastian an einen hohen Erdwall, der sich quer durch die Heidelandschaft zog. Er kletterte hinauf. Dahinter lag ein weiter Talkessel, der - nach innen zu immer tiefer abfallend - wie ein flacher Krater geformt war. Und dieses ganze Tal war angefüllt mit einer Stadt- jedenfalls legte die Menge von Bauwerken diese Bezeichnung nahe, obgleich es die verrückteste Stadt war, die Bastian je erblickt hatte. Plan- und sinnlos schienen alle Gebäude durcheinandergewürfelt, als habe man sie einfach aus einem Riesensack dort hingeschüttet. Es gab weder Straßen noch Plätze, noch irgendeine erkennbare Ordnung.
Aber auch die einzelnen Bauwerke sahen irrsinnig aus, hatten die Haustür im Dach, Treppen dort, wo man nicht hinkommen konnte, oder auch solche, die man nur kopfunter hätte betreten können und die in der leeren Luft endeten: Türmchen standen quer, und Balkone hingen senkrecht an den Wänden, Fenster anstelle von Türen und Fußböden anstelle von Mauern. Es gab Brücken, deren geschwungene Bogen plötzlich irgendwo aufhörten, so als habe ihr Erbauer mitten in der Arbeit vergessen, was das Ganze werden sollte. Es gab Türme, die wie Bananen gebogen waren, auf die Spitze gestellte Pyramiden. Kurz, diese ganze Stadt vermittelte den Eindruck des Wahnsinns.
Dann sah Bastian die Bewohner. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Der Gestalt nach schienen sie gewöhnliche Menschen, doch ihre Kleidung sah aus, als seien sie allesamt närrisch geworden und könnten nicht mehr unterscheiden zwischen Dingen, die zum Anziehen, und Gegenständen, die zu anderem Zwecke dienten. Auf den Köpfen trugen sie Lampenschirme, Sandeimerchen, Suppenschüsseln, Papierkörbe, Tüten oder Schachteln. Und um ihre Leiber hingen Tischtücher, Teppiche, große Stücke Silberpapier oder sogar Tonnen.
Viele zogen oder schoben Handkarren und Wagen herum, auf denen alles mögliche Gerumpel aufgestapelt war, zerbrochene Lampen, Matratzen, Geschirr, Lumpen und Flitterkram. Andere wieder schleppten ähnlichen Plunder in riesigen Ballen auf dem Rücken herum.
Je tiefer Bastian in die Stadt hinunterging, desto dichter wurde das Gewimmel. Doch schien keiner der Leute recht zu wissen, wohin er wollte. Mehrmals beobachtete Bastian, daß einer seinen Karren, den er mühsam in die eine Richtung gezogen hatte, nach kurzer Zeit schon wieder in die entgegengesetzte Richtung zerrte, um wenig später abermals eine neue Richtung einzuschlagen. Aber alle waren fieberhaft tätig.
Bastian beschloß, einen von ihnen anzusprechen.
»Wie heißt diese Stadt?«
Der Angeredete ließ seinen Karren los, richtete sich auf, rieb sich eine Weile die Stirn, als ob er angestrengt nachdächte, dann ging er fort und ließ seinen Karren einfach stehen. Er schien ihn vergessen zu haben. Doch schon wenige Minuten später bemächtigte sich eine Frau des Fahrzeugs und zog es mühsam irgendwohin. Bastian fragte sie, ob der Plunder ihr gehöre. Die Frau stand eine Weile in tiefes Grübeln versunken, dann ging sie weg.
Bastian versuchte es noch ein paarmal, aber auf keine einzige Frage bekam er eine Antwort.
»Es ist zwecklos, sie zu fragen«, hörte er plötzlich eine kichernde Stimme, »sie können dir nichts mehr sagen. Man könnte sie die Nichtssagenden nennen.«